Witten. Die Rektorin der Bruchschule spricht Klartext über Corona. Die Pandemie stellte den Unterricht auf den Kopf - mit Folgen fürs Zusammenleben.
- Corona stellte den Unterricht auf den Kopf. Wie, zeigt das Beispiel Bruchschule.
- Lernen war chaotisch - vor allem in beengten Wohnverhältnissen.
- Fatal sind auch die Folgen fürs Zusammenleben in der Wittener Schule.
„Unterricht in der Grundschule ist kein Marathon – es ist Zehnkampf.“ Das sagt Susanne Daum. Die 50-Jährige leitet die Bruchschule an der Ardeystraße. Das Viertel am Rande der Wittener Innenstadt gilt als sozialer Brennpunkt. Mit Blick auf die Corona-Zeit sagt die Lehrerin aus Leidenschaft: „Es war eine Katastrophe.“ Die Pandemie ist gegangen, die Probleme sind geblieben: XL-Wissenslücken und mehr Egoismus.
Wissenslücken bei Grundschulkindern immer noch spürbar
In der Corona-Zeit war die Schule, wie alle anderen in NRW, zeitweise geschlossen. Susanne Daum und ihr 14-köpfiges Kollegium standen vor der Herausforderung, Distanzunterricht für Kinder zu organisieren, in deren Familien oft kein Computer vorhanden war, sondern bestenfalls ein Smartphone für alle. Lösung des Problems waren wöchentliche Lernpäckchen zum Mitnehmen. Doch Eltern und Kinder waren oft damit überfordert, den Schulalltag selbst zu stemmen.
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Dazu kamen stressige Lebensbedingungen. Entweder durften Mädchen und Jungen nicht mehr mit anderen Kindern spielen – oder sie erlebten in beengten Wohnverhältnissen einen Lagerkoller. Die Rektorin und das Team spürten, wie stark ihre insgesamt rund 200 Schülerinnen und Schüler familiärem Druck ausgesetzt waren: „Es gab Familien, die einen Fluchthintergrund hatten. Sie hatten eine so wahnsinnige Angst vor der Krankheit – die haben sich komplett isoliert. Und manche haben bereits durch Naturkatastrophen in ihren Heimatländern Familienmitglieder verloren.“ Die Angst der Eltern übertrage sich oft auf ihre Kinder: „Das ist bis heute spürbar.“
Junge Familien
In Witten hat die Zahl der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte binnen zehn Jahren deutlich gestiegen. Das geht aus dem im vorigen Jahr veröffentlichten städtischen Sozialbericht hervor. Zwischen 2012 und 2022 ist die Zahl der Bürgerinnen und Bürger mit Zuwanderungshintergrund um 6.075 Personen gestiegen – ein Plus von knapp 24 Prozent. Seit 2015 ziehen laut Sozialbericht vor allem Schutzsuchende aus Kriegs- und Krisengebieten nach Witten.
2022 lebten 13.726 Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Witten. Das entspricht einem Anteil von rund 14 Prozent an der Bevölkerung. Im Einzugsbereich der Bruchschule liegt der Ausländeranteil mit 45 Prozent überdurchschnittlich hoch. Ausländische Familien sind im Schnitt deutlich jünger als die Gesamtbevölkerung - und haben damit häufig schulpflichtige Kinder.
Wittener Rektorin berichtet von Burnout
Das waren oft keineswegs die einzigen Probleme. „Psychische und körperliche Gewalt, ja, das alles hat es gegeben“, sagt Susanne Daum. Zuweilen waren Notbetreuung und Offener Ganztagsunterricht für die betroffenen Kinder die einzige Möglichkeit, etwas zur Ruhe zu kommen. Wie sollen Kinder unter solchen Umständen lernen? Und wie sollen Lehrerinnen und Lehrer Wissen vermitteln?
Susanne Daum und ihr Team gaben in der Zeit der Pandemie weit mehr als 100 Prozent: „Man hat einfach funktioniert, den Kindern zuliebe.“ Die Rektorin zahlte dafür einen hohen Preis, zumal vier Todesfälle im engen Umfeld den Druck erhöhten. Sie erlitt einen Burnout.
Im Rückblick weiß die Lehrerin, dass sich der Zusammenbruch schleichend anbahnte. Wenn sie davon erzählt, schießen ihr Tränen in die Augen. Susanne Daum steht dazu. Sie hat sich in den Schulalltag zurück gekämpft, auch mit Unterstützung aus dem Kollegium. Die Rektorin spricht das mit Gelassenheit aus, vermittelt positive Energie.
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Beides braucht die Stockumerin, um neue Herausforderungen zu bewältigen. Wissenslücken taten sich auf. „Die Schere zwischen starken und schwachen Schülern ist noch weiter auseinandergegangen. Es hat sich während Corona noch einmal gezeigt, wie stark Bildung vom Elternhaus abhängig ist.“ Die Lehrerin hat aus der Pandemie gelernt: Wissen muss auf eine neue Art vermittelt werden. Gerade Mädchen und Jungen aus bildungsfernen Familien sollen wenigstens Grundlagen in Lesen, Schreiben, Rechnen haben.
Aber nicht nur das Lernen, auch das Zusammenleben hat unter der Pandemie gelitten. In vielen Familien habe sich dauerhaft Angst breit gemacht, weiß Susanne Daum. Eltern würden ihre Kinder zunehmend abkapseln. Das nehme Kindern Chancen, eigene Erfahrungen zu machen. Das gelte nicht nur für überfürsorgliche „Helikopter-Eltern“. Zur Angst kommt offenbar auch mehr Egoismus. Susanne Daum: „Viele haben Ellenbogen gekriegt.“
Rektorin will Schulhund einsetzen
Gerade deswegen arbeitet die Schulleiterin daran, eine gute Lernatmosphäre zu schaffen: „Wir haben ein sehr, sehr engagiertes Kollegium, das den Kindern sehr zugewandt ist.“ Dazu gehört auch, dass Susanne Daum die Corona-Zeit genutzt hat, die Schule bunter zu machen - etwa mit farbigen Zahlenstreifen an Treppenstufen. Obendrein steht ein Hundekäfig in ihrem Büro. Die Schulleiterin ist dabei, ihren Vierbeiner so zu trainieren, dass er im Schulalltag eingesetzt werden darf - als 15. Mitglied des Kollegiums.
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