Witten. Susanne Schild hat Witten zwölf Jahre lang für die WAZ begleitet. Nun sagt sie Tschüss - mit einem persönlichen Blick aufs Stadtleben.

Beim Schreibtisch-Ausräumen fällt mir eine Verwaltungsvorlage in die Hand: Entwurf zur Bebauung des Kornmarkts, März 2018. Großes Augenrollen. Ach, typisch Witten, auf dem Platz steht bis heute nichts! Zwölf Jahre habe ich die Geschehnisse der Ruhrstadt begleitet, das belegt der ganze Papierkram in meinen Schubladen. Jetzt verlasse ich die WAZ-Redaktion am Berliner Platz. Zeit, Bilanz zu ziehen: Wie hat sich Witten in der Zeit entwickelt?

Wobei, ich muss mich korrigieren. In meine Schubladen habe ich seit dem ersten Corona-Lockdown 2020 nichts mehr gelegt. Danach war die Arbeitswelt eine andere: Inzwischen tragen wir Journalisten alles Wichtige im Rucksack mit uns herum, gesammelt auf Laptop und Handy. „Vor Corona“ gingen wir auch noch mittags essen, etwa in die „Kartoffelecke“ an der Ecke Breddestraße. Bei längeren Mittagspausen habe ich auch eine Runde durch den Kaufhof gedreht. Beides gibt es nicht mehr, diese Beispiele verdeutlichen ganz gut, wie sich unser Beruf, unsere Gesellschaft, aber auch Witten verändert haben.

Schnäppchen sind im Wittener Kaufland billiger

Redakteurin Susanne Schild, hier im Gespräch bei den regelmäßigen Leserfrühstücken in Haus Hohenstein.
Redakteurin Susanne Schild, hier im Gespräch bei den regelmäßigen Leserfrühstücken in Haus Hohenstein. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Zum Schlechten? Scrollt man sich durch die Sozialen Medien, vor allem durch die Facebook-Gruppen, dann scheint die Stadt dem Gelsenkirchener „Shithole“ nahezukommen. Wenn man über die schrottigen Straßen rumpelt - meine Favoriten sind übrigens die Vormholzer und die Herbeder Straße -, manch dubiose Ecken langläuft oder den Klagen der Geschäftsleute zuhört, kann man dem zustimmen. Wussten Sie eigentlich, dass die Schnäppchen im Kaufland Witten billiger sind als anderswo, wohl weil das Publikum ein anderes ist? Für die gleiche Flasche Wein zahlt man in Annen einen Euro weniger als in Hattingen.

Trotzdem finde ich: Witten wird zu schlecht geredet. Schauen Sie mal in den Veranstaltungskalender: Was da mitunter auf die Beine gestellt wird! An meinem letzten Wochenenddienst fanden zeitlich der Weltkindertag, das Ruhrfest mit Entenrennen und der Ökomarkt auf Zeche Nachtigall statt, mit ganz vielen Umsonst-Aktionen für Familien. Überhaupt: An den Kindern spart die Stadt trotz klammem Haushaltssäckel nicht. Immerhin investiert Witten in Schulbauten, andere Städte sparen sich das. Oder es leistet sich die Aufstockung des Schüler-Schokotickets zum Deutschlandticket. Das klingt klein, ist aber für Jugendliche eine tolle Chance. Kinder aus anderen Städten im EN-Kreis bekommen diese nicht.

Mein bewegendster Bericht? Walter Baltes!

In zwölf Jahren Witten habe ich den Bau der Pferdebachstraße begleitet und den gesamten Wandel des Viertels zum Medizinquartier. Ich finde den Umbau entlang der Ruhr mit den neuen Herbeder Brücken, dem Ruhrtalradwegausbau und der neuen Zeche Nachtigall hochspannend. Wenn man an schönen Tagen die vielen Radtouristen in der Außengastronomie vom Café del Sol sieht, denke ich an das schäbige einstige Teppichlandgelände zurück und bin weiterhin überzeugt, dass diese Stadt Potenzial hat.

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Meine Kollegen haben mich gefragt, was in all den Jahren mein bewegendster Bericht gewesen sei. Ich hab lang überlegt - vielleicht der Großbrand bei HP Pelzer in Rüdinghausen? Oder die Besuche bei Flutopfern im Sommer 2021? In meiner Schreibtischschublade habe ich meine Texte über Walter Baltes verwahrt.

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Der 95-Jährige wohnte gegenüber der Redaktion und hat mich 2013 angerufen, um seine Idee kundzutun: Er sei einsam und sehne sich nach Gemeinschaft. Darum wollte er zum Mittagessen eingeladen werden und würde im Gegenzug den Braten zahlen. 40 Menschen haben Walter Baltes nach dem „Sonntagsbraten“-Aufruf zu sich nach Hause eingeladen. Der betagte Herr ist sogar kurz berühmt geworden, selbst in den USA hat man über ihn berichtet. Ich war damals mehrfach in seiner beengten altengerechten Wohnung und staunte über die wundersame Wendung in seinem Leben. Und denk mir noch heute: Das ist Witten. Selbst wenn die besten Zeiten vorbei scheinen, ist da ganz viel Herz.

Susanne Schild übernimmt zum 1. Oktober 2024 die Leitung der Lokalredaktion Hattingen.