Witten. Der Kaufhof in Witten ist längst Geschichte. Kaufhaus Gassmann dagegen ist immer noch da. Wir fragten die Chefin, wie sie das geschafft hat.

Links neben der Kasse gibt‘s Rasierschaum und Zahnpasta. Im Mittelgang davor fängt schon die Schule an. Bunte Bleistifte, gelbe Kleber, große Zeichenblöcke mit Tigern und Giraffen drauf - es sieht ein bisschen wie in den 1970er Jahren aus, als wir unsere Schulsachen gekauft haben. Rechts biegen sich die Regale unter Miederwaren und anderer Markenwäsche. LED-Röhren strahlen von der Decke, beigefarbener Linol bedeckt den Boden. Wer all das etwas altbacken findet, erntet bei Christine Gassmann-Berger (69) nicht mal Widerspruch. Es gehört sogar zu ihrem Erfolgsrezept. Kaufhaus Gassmann ist immer noch da, während für andere Warenhäuser schon lange das Sterbeglöcklein geläutet hat. Davon kündet einige Meter die Bahnhofstraße weiter hoch der seit vier Jahren leerstehende Kaufhof. Was macht Gassmann besser?

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Jubiläen sind in der Belegschaft keine Seltenheit: Verkäuferin Kerstin Echterhoff arbeitet seit 29 Jahren bei Gassmann, eine von über 30 Mitarbeitenden.
Jubiläen sind in der Belegschaft keine Seltenheit: Verkäuferin Kerstin Echterhoff arbeitet seit 29 Jahren bei Gassmann, eine von über 30 Mitarbeitenden. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Nun, vielleicht ist es gerade diese Mischung aus Tradition und Moderne, die das 1921 von ihren Großeltern gegründete Geschäft so gut dastehen lässt. „Die Kunden fühlen sich bei uns gut aufgehoben“, sagt Christine Gassmann-Berger. Da sind die langjährigen Verkäuferinnen und Verkäufer, die sich ebenso ungekünstelt wie zurückhaltend um die Kundschaft kümmern. Da ist die Markenware, mit der sich das Familienunternehmen von den Discountern abhebt und die im mittleren Preissegment immer noch genug zahlungskräftige Käufer findet. Und da ist das riesige Angebot, von Nähgarn über Bügelbretter und Einmachgläser bis zur Barbiepuppe.

„Wir hören oft den Satz: Bei Gassmann kriegste alles“, sagt die Chefin. Toaster kaputt? Ab zu Gassmann. Die Kaffeemaschine pfeift aus dem letzten Loch? Gassmann hat eine große Auswahl an Markenartikeln. „Die Leute wollen nicht nur klicken, sondern die Ware auch anfassen“, sagt die Einzelhändlerin, die nicht übers Internet jammert, sondern damit zu leben gelernt hat. Sie nutzt die Nischen, die der Online-Versand ihr lässt. Kein Wunder, dass gerade ältere Menschen zur Stammkundschaft zählen.

Rosel Peters (83) lässt sich vom allseits beliebten Verkäufer Nelson Gomes gerade einen Fön einpacken. „Ich kaufe hier alle Haushaltsgeräte“, sagt die Seniorin, die die „gute Bedienung“ ausdrücklich lobt. Als der Kaufhof Ende Oktober 2020 dicht machte, hat Gassmann erst einmal seine Haushaltswarenabteilung erweitert. Ja, natürlich, sagt die Chefin, habe man von der Schließung des Warenhauses profitiert.

Stammkundin Rosel Peters lässt sich in der Abteilung für Haushaltsgeräte von Nelson Gomes bedienen, Verkäufer beim Kaufhaus Gassmann in Witten.
Stammkundin Rosel Peters lässt sich in der Abteilung für Haushaltsgeräte von Nelson Gomes bedienen, Verkäufer beim Kaufhaus Gassmann in Witten. © Jürgen Augstein | Jürgen Augstein

Gassmann wirtschaftet solide und mit einer anständigen Rücklage lassen sich sogar schwierige Corona-Jahre gut überstehen. Damals hat Christine Gassmann-Berger selbst an der Hintertür zum Parkplatz verkauft. Sonst sitzt sie oft oben im Büro, wohin ein Gang mit vielen Aktenordnern im Hochregal und Fotos von der Gründergeneration an der Wand führt. „Das sind meine Eltern Wolfgang und Magdalene“, sagt die Geschäftsfrau. Der Tradition wichtig ist, die aber trotzdem nach eigenen Worten mit der Zeit geht.

„Wenn Kinder nach etwas fragen, werde ich gleich hellhörig“, sagt die Wittenerin, die sich in ihrer Freizeit am liebsten um ihren Mann, Boxerhündin Selma und ihre Enkel (2 und 11) kümmert. Als Mitglied der einstigen Einkaufsgenossenschaft „Kaufring“, heute die „EK Service Group“, weiß sie natürlich über die Werbung ebenfalls, was gerade gefragt ist.

Auch Jüngere kaufen gerne im Kaufhaus Gassmann in Witten

Ohne dem Handel im Internet hinterherzulaufen, ist sich Christine Gassmann-Berger auch nicht zu schade, einmal auf den Rat einer „Influencerin“ in den sozialen Medien zu hören. Und wenn das Kaufhaus trotz seiner 70 „Warengruppen“ und zigtausend Artikel das Gewünschte einmal nicht hat, wird es eben besorgt.

„Gassmann ist Gold wert“, sagt Handwerker Nils (35), der gerade eine Schutzbrille und einen Seitenschneider kauft. Dimitri (39) hat einen Stapel Kopierpapier unterm Arm. „Top“ finde er das Geschäft - „weil es der einzige Laden ist, wo man garantiert alles findet.“ Außer vielleicht Computer und andere digitale Unterhaltungsartikel. Also alles richtig gemacht? Sieht so aus.

Ein Foto aus alten Tagen: Wäre nicht Corona gewesen, hätte Kaufhaus Gassmann 2021 das Hundertjährige gebührend feiern können.
Ein Foto aus alten Tagen: Wäre nicht Corona gewesen, hätte Kaufhaus Gassmann 2021 das Hundertjährige gebührend feiern können. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Die Bescheidenheit hat Christine Gassmann-Berger vermutlich von ihren Eltern geerbt, die das Geschäftshaus mit der weißen Kunststofffassade und dem blauen Namenszug an der jetzigen Stelle 1973 bauten. Auch das bedeutet Unabhängigkeit. Galeria Karstadt Kaufhof habe viel mit seinen Immobilien falsch gemacht, sagt Gassmann-Berger. „Die Mieten waren zu hoch.“ Eigentum spiele gerade in Krisenzeiten eine große Rolle.

Sie selbst hat keine Villa in Rüdinghausen, sondern lebt mit ihrem Mann auf dem Sonnenschein. Sie trägt blaue Jeanskleidung, nichts Extravagantes, aber trotzdem flott, vermutlich Markenware zum mittleren Preis. Da ist sie wieder, die Bescheidenheit. Bei aller Rückbesinnung auf die Tradition weiß die Geschäftsfrau, die Wirtschaft studiert hat, aber auch, wann es Zeit wird, alte Zöpfe abzuschneiden.

Von einst acht Filialen ist nur noch die in Essen-Überruhr geblieben. Das bedeutet für Christine Gassmann-Berger zudem weniger Fahrerei und etwas mehr Freizeit. Letzteres ist vielleicht der einzige Luxus, den sie sich nun etwas häufiger gönnt. Sie kann auch loslassen „Mit 90 will ich bestimmt nicht mehr arbeiten.“ Aber jetzt geht sie ja gerade mal auf die 70 zu.