Oberhausen. Mit ihrem Bühnentext für Oberhausen blickt Nora Bossong auf NS-Wirtschaftsgeschichte „von unten“: Ensemble zeigt sich in artistischer Höchstform.

Das abgenutzte Wort vom „Kästchendenken“ gewinnt im Studio des Theaters Oberhausen neue, beklemmende Bedeutung: Denn hier sind die „Kästchen“ die Elemente eines den gesamten Raum teilenden Regals, in dessen Fächer sich die vier Akteure von Nora Bossongs „Grabeland“ zwängen müssen: Von wegen Kleingartenidyll an der frischen Luft. Jeglichem Anflug von Naturalismus setzen die Regie von Intendantin Kathrin Mädler und das alle bedrängende Möbel ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Franziska Isensee eine gewollte Sperrigkeit entgegen.

Weder Simin Soraya als Lotte noch ihre drei Mitspieler können in diesen Quadraten aufrecht stehen - es sei denn, sie heben eine der Deckenplatten heraus. Das beständige Bücken, sich Krümmen, durchs Regal rollen hat für diesen Stoff, der einen bisher kaum beleuchtetes Nebenaspekt der NS-Wirtschaftsgeschichte im Revier aufrollt, eine enorme Bildmacht: Ein gerader Rücken ist weder 1936 und erst recht nicht 1942 gefragt. Straffe Haltung darf nur annehmen, wer seinen Kadavergehorsam beweisen will. Denn Nora Bossong, die als Metropolenschreiberin Ruhr des Jahres 2023 für „Grabeland“ Gelsenkirchener Archive durchforschte, förderte hier nicht das Hohelied von Widerstand und Arbeitersolidarität zutage.

So kuschelig zeigt sich das Dreiecksverhältnis von Gustav, Schorsch und Lotte nur zum Auftakt von „Grabeland“ (von unten): Simin Soraya, David Lau und Philipp Quest.
So kuschelig zeigt sich das Dreiecksverhältnis von Gustav, Schorsch und Lotte nur zum Auftakt von „Grabeland“ (von unten): Simin Soraya, David Lau und Philipp Quest. © Theater Oberhausen | Monika Forster

„Es ist kein Zusammenhalt da unten“, sagt gleich zu Beginn Schorsch (David Lau), der sich betrinkende und dann prügelnde Ehemann von Lotte. „Nur Angst. Allein kommst du da nicht raus.“ In ganz ähnlichen Worten hat übrigens Walter in Ralf Rothmanns „Milch und Kohle“ seine Arbeit als Hauer beschrieben. Doch für die beiden Kumpel Schorsch und Gustav (Philipp Quest) bietet die Seidenraupenzucht in der Hasseler Siedlung das große Versprechen: nicht nur von Wohlstand, sondern nie mehr einfahren zu müssen in die Dunkelheit. Politisch zeigen sich beide naiv bis zum offensiven Selbstbetrug: „Die Natur ist der beste Unternehmer.“

„Noch 996 Jahre, dann ist das auch wieder vorbei.“

Simin Soraya als Lotte
über das „Tausendjährige Reich“

Die schönsten, weil pointiersten und ironisch verknappten Sätze schrieb Nora Bossong für Lotte in den „Grabeland“-Text. Ohne sie wären die teils wortwörtlich aus Ansprachen der örtlichen Parteibonzen übernommenen Blähungen des NS-Jargons kaum erträglich - wie die rituellen Beschwörungen des Tausendjährigen Reichs: „Noch 996 Jahre, dann ist das auch wieder vorbei.“ Wie ihren schließlich verhassten Mann Schorsch und ihren Geliebten Gustav kleidete die Chefausstatterin alle drei in weißen Sportdress, in dem sich ein Tennis-Baron wie Gottfried von Cramm zu seiner Glanzzeit bestimmt wohlgefüllt hätte. Solche Outfits sollen Malocher und ihre verhärmten Frauen getragen haben?

Kästchendenken in 3 D: Im letzen Akt von „Grabeland“ hat Daniel Rothaug die Rückwand des die vier Akteure krümmenden und knechtenden Bühnenmöbels herausgetreten.
Kästchendenken in 3 D: Im letzen Akt von „Grabeland“ hat Daniel Rothaug die Rückwand des die vier Akteure krümmenden und knechtenden Bühnenmöbels herausgetreten. © Theater Oberhausen | Karl Forster

Nun, der aprilfrische Look illustriert vorzüglich die Aufstiegsträume von einem nicht nur leichteren, sondern „sauberen“ Leben. Die anfangs auf wolkige Seidenbahnen projizierten Filmbilder der sich langsam wie Gewürm windenden Seidenraupen wirken dagegen wie aus einem fiesen B-Movie. Näher am Kostümfundus der Zeit erscheint die Uniform von Daniel Rothaug, der in seiner Rolle - bezeichnet mit „Chor als Chronist“ - fast durchweg die NS-O-Töne zu übernehmen hat: Das klingt zum Auftakt 1936 noch geradezu strahlend-freudvoll und berstend vor Optimismus. Die Hitlerschen Durchhaltephrasen 1942 „erbricht“ Daniel Rothaug schließlich mit krampfendem Körper: Eklige Sätze gleichzeitig zu würgen und verständlich zu sprechen ist schon eine gewaltige Herausforderung.

Als Akrobaten zwischen den Regal-Fächern leisten alle Vier des Ensembles Staunenswertes - und geben, akzentuiert von blassblau leuchtend ummalten Augen der Inszenierung das Gepräge expressionistischen Theaters: Man könnte meinen, Oberhausens Intendantin hätte (wie bei Anna Gmeyners „Welt überfüllt“) einen raren Fund aus den 1930er Jahren hervorgeholt - anstatt eines brandneuen Textes. Zu einer Sprache, die teils virtuos Motive der Seidenraupenzucht umtänzelt (von der Verpuppung als Quasi-Tod bis zum Ende ihrer tragischen Figuren), passt diese „Umgarnung“ des Stoffes wie maßgeschneidert.

Eine Wunderkerze fürs neue Jahr: So markiert Daniel Rothaug als „Chor“ die drei Akte 1936, 1939 und 1942 von „Grabeland“.
Eine Wunderkerze fürs neue Jahr: So markiert Daniel Rothaug als „Chor“ die drei Akte 1936, 1939 und 1942 von „Grabeland“. © Theater Oberhausen | Monika Forster

1942 springt Gustav, nun als Fallschirmjäger, in den befohlenen Tod. Und Lotte wechselt von fast verhuschten, ironischen Apercus zum Brüllton, mit dem sie Schorsch zwingen will, ihr in die Stirn zu schießen. Der wirkt nicht nur in dieser verzweifelten Situation verzwickt bemitleidenswert: Denn das Publikum sieht David Lau als Schorsch nie saufend oder prügelnd, gar seine schwangere Frau in den Leib tretend. Im Auftreten mit fein nuanciert gesprochenen Textschleifen erscheint der verhasste Quasi-Schurke von „Grabeland“ wie ein Zwilling des ungewollt heroischen Gustav.

„Der Himmel ist so verdammt weit offen.“ Als Lotte gesprungen ist und das Ensemble seinen hochverdienten Applaus entgegen nimmt, wirkt selbst das Klatschen zunächst beklommen, ehe manche im Studio auch jubeln.

Nur vier weitere Termine bis zum Jahreswechsel

Der Premiere der Uraufführung von „Grabeland“ folgen bis zum Jahreswechsel zunächst nur vier weitere Termine, nämlich im November am Freitag, 8., und Donnerstag, 14., im Dezember am Donnerstag, 5., und Anfang Januar am Samstag, 4., jeweils um 19.30 Uhr.

Karten zu 17 Euro, ermäßigt 7 Euro, gibt‘s an der Theaterkasse, 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de