Oberhausen. Menschen-Experimente, Männer-Kämpfe, Eifersucht und Leidenschaft – am Ende wartet in Oberhausen nur der Tod auf die geliebte Marie. Sehenswert.

Es gibt Theaterstücke, die schlicht zeitlos sind. Weil Themen wie eine unerfüllte oder enttäuschte Liebe, aber auch eine „schene Leich’“ halt ewig aktuell bleiben.

Wovon auch Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ erzählt, das sich nicht zuletzt wegen der Überschaubarkeit seines handelnden Personals und einer Zuschauer-freundlichen Länge seit Jahrzehnten auf deutschen Bühnen ungeheurer Beliebtheit erfreut. Was unweigerlich zu der Frage führt, ob man diesem Dauerbrenner überhaupt noch neue Aspekte abgewinnen kann.

Dass bereits ein Perspektivenwechsel zu einer positiven Antwort zu führen vermag, zeigt die aktuelle „Woyzeck“-Deutung von Pia Richter im Theater Oberhausen (Großes Haus, Will-Quadflieg-Platz 1/Ebertstraße). Richtet sie doch in ihrer sehenswerten Inszenierung den Blick auf das Opfer, Marie mit dem schönen Mund – und dies unter dem Narrativ Femizid (Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts), das sich erfreulich unplakativ durch die optisch karge Handlung zieht.

Woyzeck-Handlung spielt in Oberhausen auf zwei Ebenen

Die Handlung spielt auf zwei Ebenen: Unten erinnert eine sandfarbene Art von Grube mit ihren schrägen Wänden, die immer wieder zum meist vergeblichen Aufstieg bespielt werden, an die Trostlosigkeit einer Köttelbecke. Während oben strahlendweiße Wände für Bürgerlichkeit stehen – szenisch wechselnd illuminiert samt vier Fenstern, in und aus denen die Gegenspieler des unglücklichen, in ihrer Grube gefangenen Paars Woyzeck (Daniel Rothaug) und Marie (Simin Soraya) auftauchen.

Simin Soraya als Marie – die Oberhausener Inszenierung wagt einen Perspektivwechsel und nimmt stärker als andere Aufführungen von „Woyzeck“ das Opfer in den Blick. Elias Baumann als fescher Tambourmajor schaut zu.
Simin Soraya als Marie – die Oberhausener Inszenierung wagt einen Perspektivwechsel und nimmt stärker als andere Aufführungen von „Woyzeck“ das Opfer in den Blick. Elias Baumann als fescher Tambourmajor schaut zu. © Theater Oberhausen | Axel J. Scherer

In diesem schlichten, doch symbolhaften Bühnenbild von Julia Nussbaumer lenkt nichts vom Textgeschehen ab, das Maria Moling mit frickeligen Ambient-Noise-Sounds dezent unterlegt. Gebannt folgt man dem schleichenden Zerfall von Woyzeck, der von einer zynischen Ärztin (Regina Leenders) für medizinische Experimente missbraucht und für seinen Harndrang („Er pisst wie ein Hund an die Wand“) ungerührt heftigst („Ich rege mich nicht auf, Aufregung ist unwissenschaftlich“) beschimpft wird.

Die regelmäßige Misshandlung von Frauen

Eine Szene, die sich wie manch andere wiederholt, und so den Handlungsstrang strukturiert, in den Pia Richter geschickt Fragmente aus dem Gutachten von Johann Christian August Clarus einwebt, der weiland die Zurechnungsfähigkeit des Leipziger Friseurs Christian Woyzeck (die Vorlage für Georg Büchner) untersucht hatte, der zum Mörder seiner Freundin wurde. Und dabei alle Merkmale fand, die man heute als Auslöser für einen Femizid betrachtet – etwa die regelmäßige Misshandlung von Frauen, die auf der Oberhausener Bühne auch Woyzeck vorgeworfen wird.

In diesem schlichten, doch symbolhaften Bühnenbild von Julia Nussbaumer auf der Oberhausener Bühne im Großén Haus lenkt nichts vom Textgeschehen des Dramas „Woyzeck“ ab.
In diesem schlichten, doch symbolhaften Bühnenbild von Julia Nussbaumer auf der Oberhausener Bühne im Großén Haus lenkt nichts vom Textgeschehen des Dramas „Woyzeck“ ab. © Theater Oberhausen | Axel J. Scherer

Woran der larmoyant-schwermütige Hauptmann (osteuropäisch nuschelig: Klaus Zwick) nicht recht glauben mag, seinem elendigen Diener Moral predigt und ihm dabei gar an die armselige Wäsche geht. Nicht ohne Woyzeck den bösen Keim der Eifersucht auf den feschen Tambourmajor einzupflanzen, den Elias Baumann als leicht schmierigen Louie gibt. Dessen Charme Marie, die als einzige durchgängig auf der Bühne steht, natürlich verfallen ist. Was Woyzeck endgültig in den von der teilnahmslosen Ärztin mit ihrer Erbsen-Diät ausgelösten Wahnsinn treibt.

Kurzweilige 70 Minuten Drama auf der Oberhausener Bühne

Das Ende vom Lied – übrigens werfen diverse frauenfeindliche Pop-Hits samt einer heftigen Techno-Nummer im Geschehen weitere Fragen auf – ist eine mit zahllosen Messerstichen gemeuchelte Marie und ein am Boden zerstörter Woyzeck. Lautstarke Begeisterung nach 70 kurzweiligen Minuten für ein starkes Ensemble und eine überzeugende Inszenierung, mit der Pia Richter souverän beweist, dass man auch eine altbekannte Geschichte aufregend neu erzählen und ihre Relevanz für die Gegenwart erfreulich frisch darstellen kann.

Noch fünf Aufführungen in diesem Jahr

Am Montag, 5. Dezember, steht „Woyzeck“ schon um 12 Uhr auf dem Spielplan. Für die Aufführung am Mittwoch (7. Dezember), 19.30 Uhr, im Großen Haus des Theater Oberhausen gibt es nur noch Restkarten. Weitere Termine sind am 9., 16. und 17. Dezember 2022 sowie am 7. Januar 2023, jeweils um 19.30 Uhr. Karten (11 bis 23 Euro) an der Theaterkasse: Telefon 0208-8578-184 oder online via theater-oberhausen.de.