Oberhausen. Aus der historischen Fußnote um Maulbeer-Hecken vor Zechensiedlung macht Erfolgsautorin Nora Bossong ihr erstes Schauspiel am Theater Oberhausen.

Mit ihrem jüngsten Roman, der es immerhin auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis schaffte, sorgte Erfolgsautorin Nora Bossong für so manche Irritationen in den Feuilletons. Denn in „Reichskanzlerplatz“ erzählt die 42-jähriger Bremerin von Magda Goebbels - und erntete teils herbe Kritikersätze. Doch womöglich erhält dieser Roman über die geschiedene Industriellengattin und Ehefrau des NS-Propagandaministers eine ganz andere Relevanz in der Zusammenschau mit dem ersten Schauspiel der Metropolenschreiberin Ruhr des Jahres 2023, das sie dem Theater Oberhausen anvertraute: Die Uraufführung von „Grabeland“ am Donnerstag, 31. Oktober, im Studio ist bereits ausverkauft. Regie führt Intendantin Kathrin Mädler.

Eine historische Fußnote aus Gelsenkirchen-Hassel inspirierte die Autorin: Vor rund 90 Jahren versuchten sich dort zwölf Männer während der Weltwirtschaftskrise in der Seidenraupenzucht. In wattierten Briefen aus Italien ließen sie sich die jeweils nur 1,5 Millimeter kleinen Eier des Seidenspinners schicken, aus denen in 35 Tagen der Aufzucht die eigentlich in China heimischen Schmetterlinge werden. Eine anspruchsvolle Aufgabe: Denn die heranwachsenden Raupen lassen sich - bis sie sich schließlich in einem langen Seidenfaden verpuppen - ausschließlich mit Maulbeerblättern füttern.

Metropolenschreiberin Nora Bossong, hier während ihrer Antrittslesung als Gast der Brost-Stiftung, gibt mit „Grabeland“ ihren ersten Theater-Text für die Uraufführung nach Oberhausen.
Metropolenschreiberin Nora Bossong, hier während ihrer Antrittslesung als Gast der Brost-Stiftung, gibt mit „Grabeland“ ihren ersten Theater-Text für die Uraufführung nach Oberhausen. © Brost-Stiftung | Christian Deutscher

So benötigten die Bergleute mit den Maulbeer-Hecken vor ihrer Zechensiedlung einige Jahre, geprägt von „Versuch und Irrtum“, bis sich ihr Hobby ab 1936/ ‘37 finanziell rentierte. Aus Steinen eines niedergelegten Zechen-Kamins mauerten sie jene Häuschen, in denen die Zucht der potenziell wertvollen Raupen schließlich gelang. Jedes Insekt spinnt für seine Verpuppung einen Kokon aus einem einzigen, bis zu 900 Meter langen Seidenfaden. Für die „Ernte“ ist exaktes Timing gefragt: Denn wenn der zum Schmetterling verwandelte Seidenspinner von innen seinen Kokon aufbricht, wäre die wertvolle Seide zerrissen.

Auch Nora Bossong bleibt in ihrem „Grabeland“-Text eng an den historischen Quellen, zitiert teils wörtlich die pompösen Erfolgsmeldungen des NS-Bürgermeisters von Gelsenkirchen. Die Autorin, die ihre Magisterarbeit zur „Inszenierung des Bösen“ vorgelegt hatte, interessieren weniger die Feinheiten der „Rauperei“, als vielmehr die von propagandistischen Fanfaren begleitete Umwandlung eines Nebenerwerbs zur „kriegswichtigen“ Produktion: Denn die Fallschirmjäger der Wehrmacht vertrauten nur auf die reißfeste echte Seide, die damals nicht durch Synthetik zu ersetzen war.

Intendantin Kathrin Mädler führt Regie bei Nora Bossongs „Grabeland“-Uraufführung - und freut sich an der „tollen Szenensprache“ der Autorin.
Intendantin Kathrin Mädler führt Regie bei Nora Bossongs „Grabeland“-Uraufführung - und freut sich an der „tollen Szenensprache“ der Autorin. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Als Ein-Personen-Chor in der Uniform eines Fallschirmspringers zitiert Daniel Rothaug in Kathrin Mädlers Inszenierung aus Jubelberichten und anderen Quellen der Zeit. Sie „umgarnen“, wenn man so will, eine Dreiecksgeschichte um die beiden Bergleute Schorsch (David Lau) und Gustav (Philipp Quest) sowie dessen Frau Lotte (Simin Soraya), die sich von ihrem trinkenden und prügelnden Ehemann ab- und dessen Kumpel zuwendet. „Sie hat den skeptischen Blick“, erklärt Dramaturgin Saskia Zinsser-Krys. Die beiden Männer sehen im NS-Regime dagegen die Chance auf eine leichtere Zukunft inmitten der Not der Weltwirtschaftskrise.

„Es ist das fast exotische Versprechen“, so Kathrin Mädler, „leichterer und sauberer Arbeit“: Rauperei statt der gefährlichen Maloche unter Tage. Doch selbst die „filigrane“ Seidenraupenzucht verstrickt die beiden in die sich rüstende Mordmaschinerie. Nora Bossong hat Nachnamen der historisch verbürgten Clique von der Zeche Bergmannsglück übernommen - war aber gänzlich frei in der Ausgestaltung ihrer Figuren. „Man weiß nichts über die Personen“, so Saskia Zinsser-Krys. Gustav und Lotte sind schließlich bereit, „in die totale Kälte zu gehen“, wie die Intendantin sagt: Im letzten Akt, 1942, ziehen sie in jenes „jüdische Haus“, dessen rechtmäßige Bewohner in den Tod deportiert wurden.

Pechvogel Jens Schnarre: Der aktuelle 1. Theaterpreisträger, hier während der „Obermünchhausen“-Bustour, probte eifrig für die Rolle des Gustav in „Grabeland“: Doch dann passierte ihm ein Armbruch; jetzt übernimmt Philipp Quest.
Pechvogel Jens Schnarre: Der aktuelle 1. Theaterpreisträger, hier während der „Obermünchhausen“-Bustour, probte eifrig für die Rolle des Gustav in „Grabeland“: Doch dann passierte ihm ein Armbruch; jetzt übernimmt Philipp Quest. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Wir haben am Probenbeginn auch viel über ,Milch und Kohle‘ gesprochen“, sagt Kathrin Mädler. „Grabeland“ wirke im Vergleich wie eine Vorgeschichte zum Tackenberg-Roman von Ralf Rothmann. Wie ihre Chefausstatterin Franziska Isensee den Studio-Raum für das Spiel mit Nora Bossongs poetisch-verdichteter Sprache gestaltet, mag die Regisseurin noch nicht verraten. Anders als die Autorin es vorgegeben hat, sieht das Publikum jedenfalls weder naturalistische Vereinshaus-, noch Wohnküchen-Kulissen. Nur soviel: „Das Bühnenbild spielt an auf die Rauperei“ - und zugleich auf das doppelte Täter/Opfer-Schicksal der von ihren Generälen verheizten Fallschirmjäger. Denn die konnten letztlich auch keine Seidenbahnen retten.

Nur vier weitere Termine bis zum Jahreswechsel

Die Premiere der Uraufführung von „Grabeland“ ist zwar ausverkauft, doch es folgen noch einige Termine bis zum Jahreswechsel, nämlich im November am Freitag, 8., und Donnerstag, 14., im Dezember am Donnerstag, 5., und Anfang Januar am Samstag, 4., jeweils um 19.30 Uhr.

Karten zu 17 Euro, ermäßigt 7 Euro, gibt‘s an der Theaterkasse, 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de