Oberhausen. Auch die Bühnenfassung des Tackenberg-Romans ist beileibe keine Liebeserklärung an Oberhausen. Der Autor applaudiert großer Ensemble-Leistung.
„Die Welt ist uns nichts schuldig“, schreibt Ralf Rothmann. „Schon gar keine Romantik.“ Mit längst plattgewalzten Revierklischees vom Schlage „rau, aber herzlich“ weiß dieser Romancier, der in Oberhausen groß geworden ist, abzuräumen wie kein zweiter. Erst entlockt Tim Weckenbrock als Simon dem Publikum im ausverkauften Großen Haus des Theaters ein paar zaghafte „Oberhausen“-Schlachtrufe - dann zieht er vom Leder gegen die „trostlose“ Stadt: „Ein Reversbild des Raubbaus, den man unter ihr, in den Flözen, betrieb, eine Metropole der Unkultur“. Das allerdings ist nicht zuletzt mit der dunkel-glänzenden Uraufführung von „Milch und Kohle“ eindrucksvoll widerlegt. Ralf Rothmann war schließlich selbst dabei und applaudierte von der Bühne einer extragroßen Ensemble-Leistung - und seinem „Alter Ego“ Simon.
„Abhängen“ wie ein Wäschestück in der Kaue
Anders als im Roman ist diese zweistündige Inszenierung von Maike Bouschen (nach ihrer mit Till Beckmann geschriebenen Textfassung) ein langer Moment der Rückschau: Simon tritt ans Grab seiner Mutter; hinter ihm öffnet sich ein monumentaler „Käfig der Erinnerungen“. Der mag vage an die Waschkaue eines Bergwerks erinnern, und hin und wieder klettern die Männer des Ensembles ins Gestänge und „hängen ab“ wie die Wäschestücke. Doch mehr noch als im Bühnenbild hintertreibt Ausstatterin Franziska Isensee mit ihren Kostümen alle Revier-Nostalgie: Die bleich geschminkten Gesichter hätten auch Regie-Altmeister Robert Wilson entzückt, die überzuckert bunte Garderobe nicht minder.
Hier hält Simons Mutter Liesel Hof wie eine Trash-Königin: Viel zu schick im pinken Kleid und mit roter Lockenpracht erinnert Susanne Burkhard hier an den Sixties-Star Angie Dickinson. Ihre stolze Attitüde trägt aber nicht weit: „Alle Nachbarn gucken mich schräg von der Seite an. Das ist so beleidigend, Simon.“ Denn da ist noch, ganz anders als im Roman, der große Frauenchor aus neun Laien-Darstellerinnen: ein echter Bühnen-Coup. In ihren weißen Kleidern ähneln sie nicht nur äußerlich dem Chor der griechischen Antike, sondern auch in der Funktion. Sie kommentieren die Dialoge mit Biss und punktgenauen Pointen, wie sie Rothmanns herber Text en gros liefert.
„Ich habe die Mutti geschlagen, mehr Mals, auch ins Gesicht.“
Man bedauert, dass dieser Chor in der zweiten Hälfte des Abends weitgehend verstummt, während sich das Geschehen - und mit ihm der stählerne Plafond des Bühnenbildes - immer enger, immer klaustrophobischer zusammenzieht. Denn dieses Drama entwickelt in seiner Familien-Konstellation große Ähnlichkeit mit Eugene O’Neills Abrechnungs-Klassiker „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von 1941. Nur projiziert sich bei Rothmann der ganze Hass des zweiten Sohnes Traska auf die Mutter: Daniel Rothaug lässt die Wut in fiebriger Intensität explodieren, macht aber zum Glück Traskas spastische „Absencen“ nicht zur zuckenden Gruselnummer.
Vielleicht den schwierigsten Part im großen Tableau hat Jens Schnarre als Walter zu tragen: Denn Simons Vater ist fast restlos verstummt. Ein großer Auftritt für ihn folgt erst mit der 15. Szene, als der Bergmann sich gezwungen sieht, seinem Sohn brieflich zu beichten: „Ich habe die Mutti geschlagen, mehr Mals, auch ins Gesicht.“ Liesel ihrerseits prügelte die beiden Kinder, bis Kochlöffel zerbrachen. Doch diese Furie zeigt Susanne Burkhard mit stimmlicher Gewalt, nur einmal zuschlagend.
Tim Weckenbrocks Simon allerdings zuckt auch vor der Gewalt der Worte zurück wie vor einer zur Ohrfeige ausholenden Hand. Sein überaus nuanciertes Spiel trägt den langen Abend - und mehr noch: Mit dem meist lakonischen Ton des 15-jährigen Lehrlings, der auch bei den Abenteuern seines Kumpels Pavel (Philipp Quest) meist eine Beobachter-Rolle einnimmt, trifft er exakt den präzisen Rothmann-Sound.
Beim Rothmann-Sound leidet die Textverständlichkeit
Bei anderen im Ensemble zeigt sich hingegen das einzige Manko dieses Dramas: Wenn sie hochtourig aufdrehen wie Pavel, wenn dessen Hass auf seinen Vater ausbricht, dann leidet die Textverständlichkeit. Und das Publikum muss schon sehr genau hinhören in dieser dichten Szenenfolge. Denn „Milch und Kohle“ als Schauspiel zeigt den übergroßen Ehrgeiz, in veränderter Szenefolge den ganzen Roman auf die Bühne zu wuchten. Doch so versinken im Mahlstrom des Rothmann-Sounds selbst grandiose Dialoge und Szenen, wie jene an Liesels Krankenbett. Die hatten sogar Till Beckmanns notorisch muntere „Spielkinder“ in ihrer Rothmann-Revue geduldiger vorgetragen.
Nur auf den fernöstlichen Roman-Epilog in einem Zen-Kloster verzichtet Maike Bouschens Inszenierung. Stattdessen verabschiedet sich Simon von seinem Bruder Traska in einer Geste furchtbarer Verlassenheit - und tritt aus den Erinnerungen wieder ans Grab, an den Bühnenrand.
Nach der zweiten Aufführung gibt‘s die Theaterpreise
Weitere Aufführungen folgen am Samstag, 28. September, sowie im Oktober an den Sonntagen, 6. und 13., jeweils um 18 Uhr, sowie am Mittwoch, 16., und Samstag, 26. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr. Karten von 13 bis 26 Euro gibt‘s an der Theaterkasse, 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de.
Im Anschluss an die „Milch und Kohle“-Aufführung am Samstag, 28. September, verleiht der Freundeskreis Theater für Oberhausen die Oberhausener Theaterpreise: in vier Jury-Kategorien und einem Publikumspreis.
Ein Hinweis zu den Fotos: Leider waren in der Endproduktion von „Milch und Kohle“ krankheitsbedingt jene Proben ausgefallen, die sonst die Theaterfotografen nutzen. So konnten weder für die journalistischen Medien noch fürs Programmheft adäquate Fotos entstehen.