Gelsenkirchen-Hassel. . 80 Jahre ist es her, dass zwölf Männer in Hassel die Seidenraupenzucht professionalisierten: Auf Grabeland an der Hasseler und Valentinstraße bauten sie Häuser, um dort die Insekten unterzubringen.

Eiersuche ist nur etwas für Kinder? Von wegen! Es waren erwachsene Männer, die vor 80 Jahren in Hassel sicher voller Ehrfurcht die wattierten Briefe aus Italien öffneten – und sich wie Kinder gefreut haben dürften, als sie die Eier des Maulbeerspinners darin entdeckten: Grundlage für die Seidenraupenzucht, die ihr Einkommen aufbessern sollte. Wenn es nach dem Geschichtskreis Hassel/Bergmannsglück geht, könnte die Zucht bald wiederbelebt werden auf genau der Fläche zwischen Hasseler und Valentinstraße, wo sie 1936/37 professionalisiert wurde.

„Das Agenda-21-Büro ist an uns herangetreten mit dem Vorschlag, die Seidenraupenzucht als pädagogisches Projekt für Grundschüler zu revitalisieren. Die Kinder könnten die Entwicklung der Eier über die Raupen bis hin zur Verpuppung in Kokons begleiten und sich an der Seidenfaden-Gewinnung beteiligen“, so Geschichtskreis-Vorsitzender Egon Kopatz. Erste Kontakte mit Schulen in Hassel und Westerholt seien bereits geknüpft. Ein Grabeland-Pächter würde seine Maulbeerbäume als Futter für die aus den Eiern geschlüpften Raupen zur Verfügung stellen, so Kopatz. Denn der Echte Seidenspinner, aus dessen 1,5 Millimeter großen Eiern im Zuge der Metamorphose nach etwa 50 Tagen Schmetterlinge werden, ist verwöhnt: Er frisst ausschließlich Blätter des Maulbeerbaums.

Hat über die Seidenraupenzucht in Hassel recherchiert: Geschichtskreis-Vorsitzender Egon Kopatz.
Hat über die Seidenraupenzucht in Hassel recherchiert: Geschichtskreis-Vorsitzender Egon Kopatz. © Funke Foto Services

Sozialpolitisches Ziel

Darüber hatten sich auch die elf Züchter informiert, die sich 1925 in Hassel auf Initiative von Adolf Recktenwald zum Seidenraupenzuchtverein zusammenschlossen. „Laut Chronik der Stadt gab es in Hassel seit etwa 1925 erste Bestrebungen, eine solche Zucht aufzubauen. Dieses Projekt wurde durch die NS-Stadtverwaltung seit 1936 als ,Teil der landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht’ verstärkt gefördert, um Deutschland bei der Erzeugung von Seide autark zu machen. Benötigt wurde diese besonders für die Produktion von Fallschirmen“, so Dr. Daniel Schmidt, Historiker im Institut für Stadtgeschichte (ISG). Mit dem militärischen Interesse war zugleich ein sozialpolitisches Ziel verknüpft, galt es doch grundsätzlich, Nebenerwerbsmöglichkeiten für Arbeitslose zu schaffen, so Schmidt weiter.

Im später zwölfköpfigen Hasseler Verein waren laut Kopatz vor allem Bergleute organisiert, deren Hobby sich wohl erst ab 1936/37 rentierte. Zuvor hatten offenbar Krankheiten für Ernte-Einbrüche gesorgt.

Zuchthäuser aus Zechensteinen

Dr. Daniel Schmidt, Historiker am Institut für Stadtgeschichte, fand Nachrichten über den Seidenraupenzuchtverein in der Gelsenkirchener Stadtchronik.
Dr. Daniel Schmidt, Historiker am Institut für Stadtgeschichte, fand Nachrichten über den Seidenraupenzuchtverein in der Gelsenkirchener Stadtchronik. © Funke Foto Services

Auf dem von der Stadt günstig gepachteten Grabeland an der Hasseler und Valentinstraße hatten die Züchter in Eigenregie zwölf kleine Häuser aus Steinen eines niedergelegten Kamins der Zeche Bergmannsglück errichtet, die die Bergwerksgesellschaft Hibernia ihnen kostenlos überlassen hatte. „Die Zechen Bergmannsglück und Westerholt engagierten sich auch bei der Anpflanzung der Maulbeerbäume am Hasseler Weg in Westerholt, in der Löchtersiedlung, an der Oberfeldinger sowie an der Valentinstraße“, so Historiker Schmidt.

Die Hauptarbeit war auf wenige Wochen beschränkt: Aus Eiern schlüpfen nur bei richtiger Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit Raupen, die etwa 35 Tage lang nahezu rund um die Uhr mit Maulbeerblättern versorgt werden müssen. Dann spinnen sich die etwa neun Zentimeter großen Tiere in einem Kokon ein – mit eben jenem begehrten, 800 Meter langen Seidenfaden. Produziert wird er per Spinndrüsen aus einem Protein-Sekret, das an der Luft härtet.

„Die Herausforderung war, den richtigen Zeitpunkt der Ernte abzupassen, denn die Kokons mussten ja noch nach Celle zur Mitteldeutschen Spinnhütte versandt werden. Sobald der Schmetterling den Kokon durchstach, war dieser unbrauchbar“, so Kopatz.