Mülheim. Unheilbar krebskrank kam ein 81-Jährige im Mülheimer Hospiz. Er war erst skeptisch, doch die Skepsis wich: „Das ist wie ein Sechser im Lotto.“
Es wird wohl das letzte Weihnachtsfest sein, das Franz Müller erlebt. Unheilbar krebskrank lebt der 81-Jährige im Mülheimer Hospiz. Nun, in der emotional besonders aufgeladenen Zeit von Weihnachtsfest und Jahreswechsel, blickt er zurück auf sein Leben und beleuchtet seine aktuelle Situation. Dass er sich eines Tages im Hospiz wiederfindet, damit hätte er im Leben nicht gerechnet, sagt der Senior.
„Ich habe das alles lange von der anderen Seite miterlebt“, erzählt Franz Müller. Selbst über Jahrzehnte als Mediziner tätig, habe er oft die „Bedrückung der Patienten“ bei schwerwiegenden Diagnosen erfahren. Und auch, was eine Diagnose wie Krebs, die ihn selbst ereilt hat, in Familien auslösen kann. „Da werden moralische Erwartungshaltungen wach, die zu großen Konflikten führen können.“ In der Regel, so habe er es beobachtet, bleibe die Pflege der Kranken an den Frauen hängen, sagt Müller, der eigentlich anders heißt. Um frei sprechen zu können - über damals und heute - bleibe er lieber unerkannt, erklärt der 81-Jährige.
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Mülheimer Senior im Hospiz: Nicht an Erwartungshaltungen klammern
Er selber erlebe in seiner aktuellen Situation auch Facetten von Erwartungshaltungen in seiner eigenen Familie. Unpassend finde er es, betont der Senior, wenn ihm ungefragt Ratschläge gegeben werden nach dem Motto: „Du müsstest mal oder du könntest mal...“ Geschehe das in seinem Umfeld, halte er auch schon mal verbal dagegen. Solche Erlebnisse, eben unaufgefordert eines Besseren belehrt zu werden, ließen ihn in der Rückschau auf sein Leben reflektieren - auch über sein eigenes Verhalten anderen gegenüber. „Ob das immer alles so richtig war?“
Hier, im Mülheimer Hospiz, genieße er die harmonische Stimmung, empfinde er keinerlei Spannung. „Die Atmosphäre ist ausgesprochen wohltuend, hier fällt kein böses Wort“, diese Formulierungen gebraucht der Senior häufiger im Gespräch. „Hier werde ich in Krankheit und Not als Mensch angenommen - und es wird nicht versucht, mich zu manipulieren oder zu korrigieren“, betont Franz Müller vehement. Ganz im Gegenteil: „Hier ist jeder bemüht, mir meine Wünsche von den Augen abzulesen.“ Nach einer kurzen Pause schiebt der Senior, der sich als gläubigen Menschen beschreibt, hinterher: „Das ist ein Akt der Liebe.“
Krebskranker im Mülheimer Hospiz: „Hier wird mir meine Würde gelassen“
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Und auch, dass ihm seine Würde gelassen werde, wenn er nicht aus dem Bett kommt, nicht selbstständig zur Toilette gehen kann, „meine Notdurft im Liegen verrichten muss“. Zwar habe er selbst als Arzt ständig mit Krankheit und Pflege zu tun gehabt, doch als Erkrankter komme er selbst an eine Schamgrenze. „Hier regeln das alle ganz professionell, da ist keine Peinlichkeit.“
Dabei war es bis vor etwa drei Monaten für Franz Müller noch undenkbar, ins Hospiz zu gehen. „Das lag außerhalb meiner Vorstellungskraft“, sagt der 81-Jährige. Der Mediziner, der seit fünf Jahren von seiner Krebserkrankung weiß, erzählt: „Der Arzt hat mir damals gesagt: Wenn alle Behandlungen anschlagen, haben Sie noch fünf Jahre - die habe ich jetzt erreicht.“
Doch die starken Nebenwirkungen gerade der Chemo-Therapie hätten ihm „so gut wie keine Lebensperspektive gelassen. In den Fingern habe ich Nervenschäden, sodass ich nicht mehr Klavier spielen kann. Klassische Musik zu hören oder Gespräche zu führen, ist mir zu viel geworden. Wenn ich eine Seite im Buch lese, kann ich den Inhalt nicht behalten. Alles, was ich geliebt habe, kann ich nicht mehr machen.“ Nicht nur seine Kinder, auch sein Onkologe haben ihm das Hospiz nahegelegt.
Drei Mal sei er als Notfall ins Krankenhaus gekommen, „drei Mal war ich schon klinisch tot und bin doch wieder aufgepäppelt worden“, schildert Müller. „Dabei habe ich meinen Söhnen gesagt: Lasst mich doch in Ruhe sterben, ich hänge nicht am Leben“, so der gläubige Christ, aufgewachsen im „hochkatholischen Bayern“.
81-jähriger todkranker Mülheimer: „Es ist nicht despektierlich, die Eltern in Pflege zu geben“
Als es bei seinem letzten Krankenhausaufenthalt von heute auf morgen hieß, „Jetzt geht‘s ins Hospiz“, sei er durchaus skeptisch gewesen, räumt Müller ein. „Doch schon am nächsten Tag wusste ich: Das ist wie ein Sechser im Lotto.“
Das Essen sei schmackhaft und mit Liebe zubereitet, das Bad in der riesigen Badewanne sei ein lange vermisstes Erlebnis von Reinlichkeit und die Mitarbeitenden hätten Zeit für Gespräche „voller Empathie“. Mit Blick auf das Lebensende sei er gewiss: Hier werde man im Sterben liebevoll begleitet. „Ich habe keine Angst vor dem Tod und auch nicht mehr vor dem Sterben, denn heute gibt es Medikamente gegen die Schmerzen. Das war zu Beginn meiner Arztlaufbahn anders.“ Nicht nur dieses Wissen, sondern vor allem auch sein Glaube lasse ihn dem Tod gelassen entgegenblicken: „Ohne meinen Glauben wäre ich schon längst nicht auf dieser Welt.“
Nun, an Weihnachten, wird er das Hospiz noch einmal verlassen. Seine Familie wird ihn abholen, gemeinsam geht es dann zum Krippenspiel und zum Essen. Jetzt, kurz vor den Festtagen, spürt er genug Kraft dafür: „Ich kann keine drei, vier Wochen vorausplanen.“ Nachdem die Kinder ihn an Heiligabend zurück ins Hospiz gebracht haben werden, bleibe er über die restlichen Feiertage wohl alleine: „Das bin ich gewohnt und es macht mir nichts aus, denn ich fühle mich nicht einsam.“
Wenn er jüngeren Generationen etwas mitgeben dürfe, erklärt der Senior, sei es dies: Niemand solle es als moralische Frage und äußeren Zwang ansehen, dass man die Eltern im Alter oder bei Krankheit selbst zu versorgen habe. „Und erst recht nicht nur die Frauen - da werde ich fast zum Feministen“, sagt Franz Müller augenzwinkernd, schiebt dann aber in tiefem Ernst hinterher: „Es ist nicht despektierlich, die Eltern in Pflege zu geben.“
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