Mülheim. Die Studentenproteste im Jahr 1968 eskalierten auch in Mülheim. Mehrere Tage wütete ein Mob in der Stadt und die Polizei war überfordert.
Das Jahr 1968 steht heute sinnbildlich für die Protestbewegung der späten 60er Jahre. Insbesondere die Studentenschaft dieser Zeit lehnte sich in Deutschland gegen die konservativen Einstellungen ihrer Elterngeneration, gegen einen autoritären Staat und gegen die Ausbeutung von Menschen durch den Kapitalismus auf. Vorbild waren ähnliche Protestbewegungen in den Vereinigten Staaten und anderen westeuropäischen Ländern. Vorfälle wie das Schusswaffenattentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke durch einen Rechtsextremisten in Berlin, an dessen Folgen Dutschke Jahre später starb, heizten das ohnehin schon energische Demonstrationsgeschehen auf den Straßen vieler Städte noch zusätzlich auf.
Das eher beschauliche Mülheim war zwar nicht unbedingt das Epizentrum des damaligen Geschehens, aber auch an dieser Stadt gingen die Massenproteste einer aufgebrachten Jugend nicht spurlos vorbei. Und so tobte, wie es im Ruhrgebietsjargon so schön heißt, im Februar 1968 für mehrere Tage in der Innenstadt der Mob.
Das war der Grund für die Krawalle in Mülheim
Konkreter Hintergrund der hiesigen Proteste war die „Aktion Roter Punkt“, die in zahlreichen Städten über längere Zeit zu Demonstrationen führte und bei der es um Fahrpreiserhöhungen ging, die die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe ihren Kunden abverlangen wollten. Die Bezeichnung dieser Protestbewegung resultierte aus dem Umstand, dass sich Autofahrer, die bereit waren, in ihren Fahrzeugen kostenlos Fahrgäste mitzunehmen, die den Verkehrsbetrieben als zahlende Kunden verloren gingen, einen roten Punkt hinter die Windschutzscheibe klebten. Damit gaben sie Signal, dass man bei ihnen mitfahren konnte.
In Mülheim war es zwischen jungen Vertretern der Arbeiterschaft und Studierenden einerseits und den Verkehrsbetrieben und der Stadtverwaltung andererseits zu heftigen Diskussionen über die Preiserhöhungen in Bus und Bahn gekommen. Die Debatte, die sich auch auf eine vermeintlich verfehlte Jugend- und Kulturpolitik in Mülheim erweiterte, schaukelte sich in den folgenden Tagen und Wochen immer weiter hoch.
Die Schülermitverwaltungen mehrerer Mülheimer Schulen schlossen sich der Bewegung an und man verabredete sich für den 13. Februar zu einer großen Demonstration in der Innenstadt. Die Demonstranten planten eine Blockade des Verkehrs am Berliner Platz, der größten Innenstadtkreuzung. Der Plan wurde auch in die Tat umgesetzt. Unter den Augen von rund 2.500 Zuschauern wurde die zentrale Verkehrsader von mehreren Hundert Demonstranten dicht gemacht. Lehrlinge der Siemens-Werke, von Rheinstahl, IG Druck und verschiedenen Mülheimer Schulen sendeten Solidaritätsadressen in Richtung der Demonstranten.
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Die Mülheimer Polizei war mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert. Gerade einmal 20 Polizeibeamte waren abkommandiert worden, um die Fahrbahnblockierer an Armen und Kleidungsstücken von der Kreuzung zu zerren. Sie hatten jedoch gegen die Übermacht der jungen Leute keine Chance. Es kam zu Rempeleien und Schlägereien zwischen der Polizei und den Demonstranten.
Der Leiter der Schutzpolizei, Polizeioberrat Seeling, ordnete schließlich an, dass sich seine Beamten zurückziehen sollten. Auch der damalige Behördenleiter der Mülheimer Polizei, Walter Pfalzgraf, mischte sich unters Volk und versuchte, mit den aufgebrachten Protestierern zu diskutieren, was allerdings völlig fehlschlug. Seine Versuche gingen schlicht und einfach in der Menge unter. Die Demonstration löste sich nach zwei Stunden wieder auf, aber es sollte noch Stunden dauern, bis die Straßenbahnen in der Stadt wieder im normalen Takt fahren konnten.
Das Spiel wiederholte sich am nächsten Tag, dieses Mal allerdings mit anderen Kräfteverhältnissen. 300 Demonstranten standen nun immerhin 170 Polizeibeamte gegenüber. Auf dem Rathausmarkt war eine Armada aus Polizeiwagen und Wasserwerfern aufgefahren. Vom den Krawallen des Vortags angelockt, wohnten dem Spektakel 2000, in Spitzenzeiten sogar bis zu 4000 Zuschauer bei. Die Innenstadt wimmelte vor Menschen.
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Erneut kam es zu Schlägereien zwischen der Polizei und den Demonstranten, denen sich demonstrationserfahrene Studenten aus Hamburg und Berlin zugesellt hatten. Der Verkehr in der Innenstadt, insbesondere am Berliner Platz und an den beiden großen Ruhrstraßen-Kreuzungen, brach völlig zusammen. Privatwagen, Linienbusse und Straßenbahnen stauten sich im gesamten Innenstadtbereich. Plakate mit Aufschriften wie „Bürger wacht auf, holt eure Fahrräder heraus“ oder „Fahrpreise nieder, sonst kommen wir wieder“ wurden hochgehalten.
„Bürger wacht auf, holt eure Fahrräder heraus“
Nicht überall stießen die jungen Leute mit ihrem Protest auf Gegenliebe. Einige aufgebrachte Autofahrer, die nicht mehr weiterfahren konnten, verließen ihre Fahrzeuge und beschenkten den einen oder anderen der Straßenblockierer mit saftigen Ohrfeigen. Es gelang der Polizei schließlich durch Bildung von Polizeiketten, die Demonstranten gegen 17.30 Uhr auseinanderzutreiben. Zwölf Randalierer wurden festgenommen. Gegen sie wurden Anzeigen geschrieben und sie durften sich auf Schadensersatzforderungen der Verkehrsbetriebe einstellen.
Ein junger Polizeikommissar „mit polizeilicher Flüstertüte in der Hand“ gab dabei, wie diese Zeitung am nächsten Tag berichtete, ein schlechtes Bild ab. Nach Feststellung der Journalisten hatte er Demonstranten noch getreten und ihnen in den Rücken geboxt, als sie bereits von anderen Beamten festgenommen und gesichert worden waren. Der Spuk von Aufruhr und Krawall wiederholte sich am nächsten Tag nicht mehr, aber für zwei Tage war Mülheim ein kleines Berlin gewesen.
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