Ruhrgebiet. . Auch im Revier gingen Studenten 1968 auf die Straße. Zwei Apo-Veteranen erinnern sich an die ausgebliebene Revolution an der Uni und im Opelwerk

Da sitzen die beiden alten Revolutionäre auf dem Sofa in einem Hattinger Reihenhäuschen. Gekämpft haben sie für eine Veränderung der Gesellschaft, für die Entmachtung des Kapitals, für andere Produktionsbedingungen und den Abriss verkrusteter Strukturen. Wolfgang Schaumberg nahm sich als linker B etriebsrat bei Opel die Arbeiterklasse vor, Jürgen Link, der spätere Germanistik-Professor, trug den Aufbruch in die gerade gegründete Ruhr-Uni Bochum. 1968 war das, sie waren jung und „teilweise etwas naiv“, wie beide heute sagen. Nun sind sie in Ehren ergraut, Link ist 77, sein Freund drei Jahre jünger – und beide sind immer noch links und aktiv, jeder auf seine Weise.

Die Zeit von Flower-Power, Aufstand und Aufbruch

„Man kann unsere Begeisterung nur verstehen, wenn man die damalige Situation vor Augen hat“, sagt Schaumberg. „Das war die Flower-Power-Zeit, die Hippies, lange Haare, der Vietnam-Krieg, der Aufstand in Prag 1968, der Tod von Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demo im Juni 1967 und schließlich das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April ‘68. Es war die Zeit des Aufbruchs“, erzählt er mit leuchtenden Augen.

Wolfgang Schaumberg (links, ehem. Betriebsrat bei Opel-Bochum) und Jürgen Link (ehem. Professor für Literaturwissenschaft und Diskursforschung, erinnern sich an 1968
Wolfgang Schaumberg (links, ehem. Betriebsrat bei Opel-Bochum) und Jürgen Link (ehem. Professor für Literaturwissenschaft und Diskursforschung, erinnern sich an 1968

Alles schien sich zu verändern, alte Regeln und Wahrheiten wurden brüchig und von der Jugend hinterfragt. An der Universität sprengten die Studenten die Vorlesungen und kritisierten – welch’ Affront – die Herren Professoren. „Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren“, lautete ein populärer Sponti-Spruch. „Die Haupttendenz der heutigen Welt ist die Revolution – so fühlten wir das“, sagt Schaumberg. Und Jürgen Link, der Professor, nickt dazu.

Raus aus den Seminaren und rein in die Betriebe

Im Ruhrgebiet waren sie nach ihrer Ansicht genau richtig, denn rund um die neuen Revier-Unis gab es die großen Betriebe mit ihrem Heer von Arbeitern, die nur noch von der Revolution überzeugt werden mussten. In der Nachbarschaft der neuen Opelfabrik in Bochum mit damals über 20 000 Beschäftigen wurde die Ruhr-Uni aus dem Boden gestampft. So war es nur ein Schritt aus den Seminaren und Debattierzirkeln hinüber zu den Arbeitern in der Auto-, Stahl und Bergbauindustrie.

„Uns wurde klar, es reicht nicht, wenn wir nur in der Uni diskutieren, wir mussten in die Betriebe gehen“, sagt Schaumberg. „Wenn wir eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung etablieren wollten, brauchen wir insbesondere die Solidarität mit den Arbeitern.“ Und anstatt Lehrer zu werden und sich auf eine Beamtenlaufbahn zum Oberstudienrat vorzubereiten, wurde Schaumberg Lagerarbeiter und Betriebsrat bei Opel. Dort blieb er 30 Jahre lang.

Studentenführer zog es immer wieder ins Ruhrgebiet

Rund 3000 Demonstranten zogen beim Ostermarsch Ruhr am 13. April 1968 durch die Straßen von Essen. Sie trugen Fotos von Rudi Dutschke, auf den zwei Tage zuvor in Berli geschossen worden war.
Rund 3000 Demonstranten zogen beim Ostermarsch Ruhr am 13. April 1968 durch die Straßen von Essen. Sie trugen Fotos von Rudi Dutschke, auf den zwei Tage zuvor in Berli geschossen worden war.

Immer wieder zog es linke Studentenführer ins Ruhrgebiet, ihr Ziel war schließlich eine marxistische Arbeiterrevolution. Überhaupt schlug in NRW mit der damaligen Bundeshauptstadt das politische Herz der jungen Bundesrepublik, deren politische Basis die 68er zu erschüttern suchten. Rudi Dutschke sprach im November 1967 auf Einladung des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) in der voll besetzten Mensa der Ruhr-Uni über die Notstandsgesetze und brachte den Saal zum Kochen, erinnert sich Schaumberg.

Kaum drei Monate später war Dutschke wieder im Revier: Am 4. Februar ‘68 diskutierte er vor 1700 Zuhörern in der Stadthalle Wattenscheid mit dem damaligen Landtagsabgeordneten und SPD-Vorstandsmitglied Johannes Rau. Vor dem ungewöhnlichen Streitgespräch überreichte Rau noch in der Garderobe dem verdutzten Studentenführer eine rote Strampelhose – ein Geschenk für dessen kleinen Sohn ­Hosea Che. Rau scherzte: „Wenn er tüchtig strampelt, darf er mit 18 Mitglied der SPD werden.“ Dutschke konterte: „Wenn er 18 ist, gibt es keine SPD mehr!“

Bis heute reizt 1968 zu politischen Debatten

Das alles ist 50 Jahre her. Die Erinnerung daran hat Patina angesetzt, genauso wie die vergilbten Zeitungsausschnitte und Flugblätter, die Link und Schaumberg gesammelt haben und nun auf dem Esstisch wieder aufblättern. Zur Apo gehörten sie, zur Außerparlamentarischen Opposition. Wenn sie heute ironisch Apo-Opas genannt werden, nehmen sie es mit Humor.

Bis heute reizt ‘68 zu politischen Kontroversen: Konservative machen sie für eine sozialistische Unterwanderung der Gesellschaft verantwortlich, für das Ende bürgerlicher Ordnung, für den Abriss von Autoritäten und Werten, für überbordenden Umweltschutz, Antimilitarismus und Kirchenfeindlichkeit und schließlich für eine bis in die heutige Zeit reichende linke Meinungsführerschaft, die in eine moralisch überhebliche Verbotspolitik der Grünen gemündet sei.

Der Kalte Krieg prägte eine Generation

Liberale sehen hingegen in den 68ern einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruch, ein Ende des Schweigens über die nationalsozialistische Vergangenheit, über die Verbrechen der Vätergeneration, einen Bruch mit den muffigen und verklemmten Nachkriegsjahren und einen wesentlichen Schritt für mehr demokratische Freiheit und Offenheit, von dem die Bundesrepublik noch heute profitiere. Der Sozialphilosoph Oskar Negt attestierte den 68ern im Rückblick Mut zum grenzüberschreitenden Denken. Sie hätten den Satz von Immanuel Kant „habe Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“, versucht in Politik umzusetzen.

Geprägt von einer immer aggressiveren Konfrontation der Großmächte im Kalten Krieg, von Kuba-Krise und dem Bau der Berliner Mauer sprach die Jugend plötzlich von Frieden, Abrüstung, Gleichberechtigung, sexueller Befreiung, Kommunismus und Pazifismus. Zwischen Drogen und Revolte, zwischen Beatles und Weltrevolution suchte die Jugend ihren Platz. Und was sie stark machte, was sie zu bestätigen schien: In fast allen westlichen Ländern, in Europa und in den USA, fanden sie ein Echo. Ob die Demos in Paris, Berlin oder Chicago stattfanden, die Rock-Festivals im Münsterland oder in Woodstock – aus Sicht der Jugend schien 1968 eine Weltbewegung zu sein. Etwas Neues, Aufregendes schien sich zu ereignen.

„Der Krieg in Vietnam hat uns aufgerüttelt“, erinnert sich Jürgen Link. Das Pentagon entlaubte mit dem Gift Agent Orange den Urwald, um die Nachschubwege der Vietkong zu entlarven. „Eine ganze Generation wurde dadurch vergiftet,“ sagt Link und klingt noch heute empört. „Doch die Massenmedien im Westen berichteten nicht darüber, nach offizieller Lesart wurde in Vietnam der Kommunismus bekämpft. Wir dachten nur: Das kann doch nicht wahr sein, dass wir ein Land zerstören für Demokratie und Freiheit?“

Aufmarsch von Wasserwerfernund Polizisten in Essen

Link erlebte die Streiks und Kämpfe im Mai ‘68 in Frankreich, war bei Aktionen in Paris und Besancon dabei – „ich stand dort hinter der einzigen Barrikade“. Ein wilder Streik legte das Land wochenlang fast vollständig lahm, die Renault-Werke standen still. Daniel Cohn-Bendit, der Rote Danny, war mit von der Partie, führte wortmächtig eine der stärksten linken Gruppen mit anarchistischem Anstrich. Joschka Fischer, der spätere grüne Außenminister, begann seine Karriere als Straßenkämpfer und Agitator.

In Bochum blockierte unterdessen Wolfgang Schaumberg die Straßenbahngleise aus Protest gegen die Fahrpreiserhöhung der Bogestra. „Wir forderten den Null-Tarif“, sagt er. „Die Polizei räumte uns ab.“

Einen Tag nach dem Anschlag auf Dutschke erlebte die Stadt Essen den Aufmarsch von Wasserwerfern, Polizeibussen und Demonstranten: Vor dem Springer-Druckhaus in der Sachsenstraße tobte eine regelrechte Straßenschlacht. Studenten, Schüler und Gewerkschafter waren aus ganz NRW nach Essen gereist, um die Auslieferung der Zeitungen „Bild“ und „Welt“ zu verhindern, die der Hamburger Verlag hier drucken ließ. Auch hier war Wolfgang Schaumberg dabei. Einige mit Zeitungen beladene Laster durchbrachen mit Hilfe der Polizei die Blockade, andere blieben stecken oder drehten ab. Die Demonstranten machten die Springer-Presse und ihre „Hetze“ gegen die linken „Rädelsführer“ für das Attentat auf Dutschke mitverantwortlich. Der zentrale Protest-Slogan lautete: „Enteignet Springer!“

Studenten „sprengten“ Vorlesungen an der Uni

Auch an der Ruhr-Uni drehte sich der Wind: „Wir haben begonnen, Vorlesungen zu sprengen“, erzählt Link. Das ging so: Der Germanistikprofessor segelte mit seinem Gefolge in den Hörsaal und erwartete stumme und andächtig mitschreibende Studenten – wie es seit jeher Sitte war. So wollte einmal der Professor eine Vorlesung halten über den althochdeutschen Dichter Ottfried von Weißenburg. Dann aber unterbrach ihn eine Gruppe Studenten und verlangte zu diskutieren, und zwar über die „gesellschaftliche Relevanz“ des Stoffs. Sollte heißen: Was hat uns der olle Ottfried heute noch zu sagen?

Die Professoren reagierten je nach Temperament, manche nahmen es mit Humor, andere stürmten beleidigt aus dem Saal. „In der Germanistik wurde der Althochdeutschzwang wie auch der Lateinzwang von uns abgelehnt. Und beim Mittelhochdeutschen, zum Beispiel Minnesang, forderten wir die Berücksichtigung des Feudalismus“, sagt Link.

So waren diese Zeiten: Am 10. September 1969 berichtete die Bild-Zeitung über wilde Streiks der Berg- und Stahlarbeiter im Saarland und im Ruhrgebiet: „Noch immer keine Ruhe an der Streikfront“, schrieb das Blatt. Und listet die maßlosen Forderungen der Beschäftigten auf: Fünf-Tage-Woche, mehr Lohn, mindestens 1000 Mark für Untertage-Arbeiter, Kindergeld vom ersten Kind an. Das klang nicht gerade nach Umsturz und Klassenkampf. Heute erscheint es uns selbstverständlich.

Die Vergangenheit als Roman: Bangemachen gilt nicht

Hat sich der Einsatz also gelohnt? Hat sich ihr Kampf ausgezahlt? Schaumberg meint: „Als Betriebsrat bei Opel musste ich lernen, dass alles nicht so leicht war, wie wir dachten. Wir hatten das Management und die IG Metall zum Gegner. Und die Arbeiter hatten andere Sorgen, Familie, Häuschen, Kinder. Alles weit entfernt von unseren sozialistischen Parolen.“ Link ergänzt: „Wir haben nicht verstanden, dass die Arbeiter und das Volk so etwas wie eine Normalität des täglichen Lebens benötigen. Etwas Neues lässt sich nicht von heute auf morgen überstülpen.“

An den Universitäten beobachte er heute ein „Rollback“, eine Rückkehr zu eher konservativen und angepassten Verhaltensmustern. Was aber geblieben sei, sind neue Formen selbstbestimmter Seminare, neue Inhalte wie sozialkritische Literatur sowie neue Theorien wie Frankfurter Schule, Marxismus und Psychoanalyse. Link hat seine Erinnerungen an 1968 im Ruhrgebiet in ein mächtiges Romanwerk gegossen: „Bangemachen gilt nicht – Auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung.“ Das im Asso-Verlag erschienene Buch ist 924 Seiten schwer. Der Titel beschreibt ganz treffend das Lebensmotto der beiden Apo-Veteranen.

Kumpel Schaumberg ist derzeit neben anderen Aktivitäten auch bei Occupy-Bochum aktiv. Demnächst sei eine Kundgebung geplant – gegen die teuren Fahrpreise der Bogestra. „Wir fordern den Null-Tarif, langfristig“, sagt Schaumberg. Ohne Witz.