Mülheim. In den 50ern verließen sie die Schule, erlebten dort eine komplett andere Zeit als heutige Kinder. Nun blicken die Damen, längst über 80, zurück.
Sie gibbeln wie jugendliche Mädchen, strahlen dabei große Freude aus, stecken die Köpfe zusammen und sofort fällt die Frage: „Weißt du noch...?“ Dass diese Damen bereits jenseits der 80 sind, kann man kaum glauben. Und doch feiern sie hier eine jahrzehntelange Verbundenheit - bei ihrem 65. Klassentreffen. „Unsere Kinder sagen, dass wir deshalb Exoten sind“, schallt es über den Tisch.
Dass es inzwischen schon 65 Jahre her ist, als sie gemeinsam gepaukt haben an der Mädchen-Realschule an der Von-Bock-Straße, erscheint den Klassenkameradinnen beinahe selbst unglaublich. Wie wichtig ihnen das Wiedersehen mit den ehemaligen Schulfreundinnen ist, zeigt der Einwurf von Ursel Tiedtke, mittlerweile 82 Jahre alt: „Ich habe nur einmal gefehlt beim Klassentreffen - weil ich schwanger war.“ Ansonsten habe sie es - wie die allermeisten anderen auch - immer möglich gemacht zu kommen.
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Mülheimerinnen jenseits der 80 teilen ihre Erinnerungen an die Schulzeit vor über 60 Jahren
Inzwischen aber sei der Kreis kleiner geworden - von den ehemals 29 Schülerinnen kommt inzwischen vielleicht noch ein Dutzend. Sie plaudern über „die Nölle“ - ihre damalige Sportlehrerin - und fragen nach der „Hacki“, einer Mitschülerin, die ihr Kommen eigentlich angekündigt hatte. „Wir haben uns mit Ausnahme der Coronazeit jedes Jahr getroffen - so sind wir uns nahe geblieben und nie fremd geworden“, blickt Roswitha Thiesen zurück.
Wie anders die Zeit - ihre Schulzeit - damals in den 50er Jahren war, dokumentieren ihre Fotos, die sie mit zum Klassentreffen gebracht habe: Die Schwarz-Weiß-Bilder zeigen adrett gekleidete junge Mädchen, die artig aufgereiht in die Kamera blicken - selbstverständlich gekleidet mit Röcken und flachen Halbschuhen, die jungen Damen tragen akkurat sitzenden Frisuren.
Wenn die Jungs ihr Schulgebäude genutzt hatten, wurde es für die Mädchen spannend
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Ausschließlich Mädchen in der einen Schule, nur Jungen in der anderen - so war das damals. Was das Interesse am anderen Geschlecht mitunter sicherlich noch schürte. Ursel Tiedtke weiß noch genau, wie das war: „Die Schule der Jungen war um die Ecke. Als dort Bauarbeiten stattfanden, mussten die Jungs mit in unserem Gebäude untergebracht werden. Wir wechselten uns dann mit dem Unterricht ab, die Mädchen vormittags, die Jungs nachmittags und umgekehrt.“
So liefen sich die jungen Leute nicht über den Weg - die „Sittenpolizei“ wollte Begegnungen zwischen den jugendlichen Geschlechtern wohl tunlichst vermeiden. Ganz ohne Kontakt aber verlief der abwechselnde Schulbesuch dennoch nicht, erzählt die 82-Jährige mit einem schelmischen Lächeln und geröteten Wangen: „Wenn wir Mädchen dann wieder an unsere Plätze kamen, tasteten wir unter unserer Bank entlang und fanden Briefe von den Jungs. Meiner kam aus Broich - doch den hab ich nie getroffen.“ Die Klassenkameradinnen von einst, heute teils mit grauen Haaren und Brille, gibbeln wie die Teenager.
Jungen lernten mehr in Naturwissenschaften - das fiel einer Absolventin während der Ausbildung auf
Dass es aber auch erhebliche Unterschiede in den Lehrplänen der Mädchen- und der Jungen-Schule gab, die mitunter entscheidend für die Zukunft der Schülerinnen werden konnten, hat Elke Brandt nach ihrer Schulentlassung 1959 erfahren. Für ihre Ausbildung besuchte die inzwischen 81-Jährige die Berufsschule von Bayer Leverkusen, wo sie dann gemeinsam mit Jungen die Schulbank drückte. „Da wurde mir schnell klar, dass ich an unserer Schule gar nicht genug in Naturwissenschaften gelernt hatte.“
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Kurzum konfrontierte die junge Elke ihren ehemaligen Klassenlehrer Rolf Boing mit den Worten: „Das haben wir gar nicht durchgenommen.“ Der Realschullehrer musste der jungen Frau recht geben und verwies auf die Lehrstoffe, die für Jungen und Mädchen voneinander abweichend waren: „Die Jungen hatten vier Stunden Mathe in der Woche, wir nur zwei, auch bei Chemie und Physik hatten sie die doppelte Anzahl an Stunden“, ärgert sich Elke Brandt noch heute und meint: „Unsere Schulleiterin damals setzte für uns Frauen nur auf Küche, Kirche und Büro.“ Dass die junge Frau trotzdem ihren Berufswunsch erfüllen und Physiklaborantin in der Bergbauforschung werden konnte, verdankt sie rückblickend nicht nur ihrem eigenen Ehrgeiz, sondern auch der Unterstützung ihres ehemaligen Realschullehrers: „Er hat mir Monate lang Nachhilfe gegeben, damit ich den nötigen Stoff aufholen konnte.“
Die gesamte Mülheimer Mädchen-Klasse ging zusammen zum Tanzkurs
Nassforsch ging auch Heidi Zimmermann - damals noch Fräulein Zorn - zu Werke, als sie sich im Frühjahre 1957 selbst eine Entschuldigung schrieb. Darin zu lesen - in akkurater Mädchenhandschrift und blauer Füllfeder-Tinte: „Da Heidemarie Zorn sehr erkältet ist, bitte ich sie vom Turnunterricht zu befreien.“ Heidi Zimmermann beteuert, dass alles rechtens war: „Die Mutti hat es unterschrieben.“ Hinter einem „Hochachtungsvoll“ ist auf dem vergilbten, karierten Zettel die Unterschrift ihrer Mutter zu sehen. „Es war eine schöne Zeit damals“, sagt die 81-Jährige heute und schiebt mit leuchtenden Augen hinterher, „die Zeit der Petticoats und von Elvis Presley.“
Die Musik spielte für die jungen Damen damals eine wichtige Rolle: Geschlossen ging die ganze Klasse zum Tanzkurs bei der Tanzschule Knigge. Ilse Wülfing hält ein kleines Heftchen hoch, in dem die Tanzstunden vermerkt sind - samt der damaligen Tanzpartner. „Wir waren um die 15 Jahre alt“, grinst Ilse Wülfing. Und Elke Brandt erinnert sich, dass der Mittelball ihres Tanzkurses noch nicht in der Stadthalle stattfinden konnte, denn „die hatte noch Kriegsschäden“. Stattdessen schwebten die jungen Tänzerinnen im Handelshof übers Parkett. Ihr Klassenlehrer hatte veranlasst, dass die Mädchen allesamt gleichzeitig am Tanzkurs teilnahmen - „wohl damit wir nicht auf dumme Gedanken kommen“.
Ihr Klassenlehrer war eine Wucht, erzählen die Mülheimerinnen
Überhaupt sei „ihr“ Herr Boing eine Wucht gewesen. „Er hat viele Ausflüge und Klassenfahrten für uns organisiert - ins Saarland, das damals noch französisch war, nach Nordholland und als Abschlussfahrt nach Brüssel. „Von dort habe ich meinen Eltern eine Postkarte geschrieben“, sagt Heidi Zimmermann und hält eine schwarz-weiße Aufnahme des Atomiums hoch.
Apropos Aufnahme - als es darum geht, ein Foto zu machen vom diesjährigen Klassentreffen, ruft Ilse Wülfing in die Runde: „Und wer legt sich vorne vor die Gruppe?“ Beinahe im Chor kommt unter Lachen zurück: „Das war früher.“ Im nächsten Jahr, daran lassen die ehemaligen Mitschülerinnen keinen Zweifel, treffen sie sich wieder - zu ihrem 66. Klassentreffen. Und schon Udo Jürgens wusste: „Mit 66 ist noch lange nicht Schluss.“
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