Mülheim. . Vom Dienst an der Flak bis zum Trenchcoat-Trend: Ehemalige Gymnasiasten aus Mülheim haben ihre bewegende Geschichte seit 1938 festgehalten.
Ihre Klassenchronik erzählt nicht nur viele Geschichten vom Krieg und vom erfahrenen Glück danach, von ausschweifenden Polterabenden, auch von Verstorbenen. Sie ist selbst auch ein Dokument der erlebten Nachkriegsgeschichte. Seit 1951 halten die Abiturienten des Sonderkursus III des Staatlichen Gymnasiums jährliche Klassentreffen ab – und erstellten dabei ihre Klassenchronik. Am vergangenen Freitag überreichten sie diese den Lehrern des Gymnasium, das heute Otto-Pankok heißt.
1938 wurde der SK III eingeschult, erzählt Hans Georg Bauernfeind, der die Klassentreffen bis heute mitorganisiert hat. Doch schon kurze Zeit später wurde der Klassenverband von den Nazis eingezogen, die meisten waren kaum 15 Jahre alt. „Wir mussten an die Flak, Objektverteidigung“, schildert der 90-Jährige: am Kanal in Oberhausen-Buschhausen, später an der Ruhrchemie, dann an der linken Rheinseite bei Moers.
„Wir haben geschossen und den Angreifer gar nicht gesehen“
„Es war ein anonymer Krieg, wir haben geschossen und den Angreifer gar nicht gesehen.“ Bis auf ein Mal, als sie sahen, wie ein Flugzeug in Flammen explodierte. Wenige Fotos der Chronik zeigen die Einsätze: Die Kriegserfahrung, „das Schwere war für uns bildend für das ganze Leben“, so Bauernfeind.
1945 gingen die ersten Klassenkameraden aus der Gefangenschaft zurück auf die Schule. 1947 legten viele ihre Reifeprüfung ab. „Der Würde unserer Klasse gemäß feierten wir dieses wichtige Ereignis gleich dreifach.“ Bauernfeind selbst machte Karriere in der Verwaltung, wurde in Mülheim schließlich Leiter des Einwohnermeldeamtes. Ein preußischer Beamter, wie er von sich selbst sagt. „Ich habe aber nie ein Parteibuch gehabt.“ Vielleicht auch eine Lehre aus der Nazi-Zeit: „Ich wurde an der Schule erzogen, nichts unkritisch zu übernehmen.“
Junge Väter zeigen stolz ihre Kinder
„Carpe Diem“ mit Ausrufezeichen – so beginnt die erste Aufzeichnung der Klassenchronik 1951 mit dem spürbaren Drang nach Neuanfang und Leichtigkeit: „Draußen im Lande zählte man das Jahr 1951 post Christum, als sich der Chronist behaglich in seinen Lehnstuhl setzte, das Pfeifchen anzündete und sich ein Gläschen Rotspon neben den Schreibtisch stellte.“ Das schrieb damals Fritz Remberg zum 25. Klassentag am 7. April 1951.
Das weitere Geschehen? Ein Beispiel klassischer Nachkriegsgeschichte: Ein Kegelklub wird gegründet, man verlobt sich, heiratet oder wird wie Hans Günter Rekos zum Priester geweiht. Junge Väter zeigen stolz ihre Kinder. In den 1970er Jahren zeigte sich der Klassenverbund schnieke im Anzug, ein Jahrzehnt später war der Trenchcoat-Trend.
Schulbesuch 1997: Alles war ganz anders
1997 besuchten die Ehemaligen ihre frühere Schule, das heutige Otto-Pankok-Gymnasium: „Wir trafen uns vor der Penne, begannen langsam, uns wieder wie Pennäler zu benehmen und zu schwätzen. Die Schulleitung kam pünktlich – zu unserer Schulzeit wurde die Pünktlichkeit seitens der Herren Lehrer ja nicht immer so genau genommen“, steht als augenzwinkernde Anmerkung verzeichnet.
Die damalige Leitung führte sie durch das Gebäude, in die Physik, Chemie, die Bücherei und den Computerraum. „Alles so ganz anders, nicht mehr so nüchtern, sachlich und kühl wie zu unserer Zeit“, zogen die Ehemaligen ihr Resümee.
>> KLEINE GRUPPE, GROSSE VERBUNDENHEIT
Die Zeiten ändern sich, und doch sind die Klassenkameraden eng verbunden geblieben – auch wenn sie durch Tod und Krankheit weniger geworden sind. Gut neun Ehemalige treffen sich noch.
Für Hans-Georg Bauernfeind ist diese Verbundenheit etwas ganz Besonderes, und er unterstreicht mit dem Zeigefinger: „Keiner von uns ist auf die schiefe Bahn geraten, trotz der Kriegserlebnisse – wohl deshalb, weil wir so jung waren.“
Mit dem Jahr 2018 schließt die gut hundert Seiten starke Chronik. Sie hätte noch dicker ausfallen können, sagt Bauernfeind. Vier Ordner mit Aufzeichnungen hat der pensionierte Beamte noch im Aktenschrank.