Mülheim. An der Bahnstrecke zwischen Essen und Mülheim werden Gleise erneuert, rund um die Uhr. Mit Warnsirenen. Anwohner schildern schlaflose Nächte.
Der Ton kommt auf einen Schlag, und der Mensch zuckt zusammen. Es klingt ähnlich wie eine Sirene, wie ein Martinshorn, nur schneller, schriller. Das Geräusch dringt aus gelben Lautsprechern, die auf Stelzen stehen, direkt neben den Bahngleisen, neben der Baustelle.
Das Gerät heißt korrekt: Automatisches Warnsystem (ATWS), wird auch Rottenwarnanlage genannt. Es gibt Arbeitern Signale, wenn ein Zug heranrauscht, so wie derzeit an der Bahnstrecke zwischen Mülheim und Essen. Der Sound ist vor allem im Winkhauser Tal unüberhörbar. Anwohner leiden darunter, einigen raubt die Sirene den Schlaf. Denn gearbeitet wird dort Tag und Nacht.
Bahn erneuert zwischen Mülheim und Essen über 6000 Meter Gleis
Es muss schnell gehen. Die Deutsche Bahn (DB) nutzt die aktuelle Großbaustelle am Autobahnkreuz Duisburg-Kaiserberg, um Gleise und Weichen zu erneuern. Dort hat der Neubau der A3-Autobahnbrücke begonnen, unter der wichtige Eisenbahnstrecken zwischen Duisburg und Essen verlaufen. Diese müssen aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Durch Mülheim fahren derzeit deutlich weniger Züge.
Die Deutsche Bahn nutzt die Gelegenheit, um „umfangreiche Bauarbeiten für die Starke Schiene durchzuführen“, heißt es in einer Mitteilung. Zwischen Mülheim und Essen werden demnach mehr als 6000 Meter Gleis und drei Weichen erneuert. Insgesamt 12.000 Meter Schiene, 10.000 Schwellen und 12.000 Tonnen Schotter müssen ausgewechselt werden. Rund 6,5 Millionen Euro wird das Ganze kosten.
Mülheimer Facebook-Nutzer rätseln über „komisches Gebimmel“
Das Zeitfenster ist schmal: Die Sperrung hat am 22. Juli begonnen und soll am Freitagabend, 2. August, abgeschlossen sein. In einer Mülheimer Facebook-Gruppe rätseln und schimpfen betroffene Anwohner seit Tagen über das „komische Gebimmel“, das durch geschlossene Fenster dringe, mehrmals pro Stunde, und ihnen selbst sonntags keine Ruhe lasse, auch nicht in der Nacht. „Schon nervig, wenn man morgens früh arbeiten muss“, schreibt eine Frau.
In ihrer Nachtruhe erheblich gestört fühlen sich auch Alexander Warmers und seine Familie, die am Winkhauser Talweg wohnen, direkt neben den Gleisen. Am Sonntag sei bis tief in die Nacht hinein gebaut worden, berichtet Warmers. „Es war so laut, dass es kaum möglich war zu schlafen, besonders ärgerlich, wenn man kleine Kinder hat.“ Seit Beginn der Bauarbeiten würden die Anwohner täglich von früh bis spät durch Warnsirenen, laute Baumaschinen und Aggregate „teilweise in den Wahnsinn getrieben“.
Belästigung durch nächtlichen Lärm und Staub
Nicht nur der Lärm sei schlimm, auch der Staub, schildert Warmers. Sie hätten die Terrasse schon fluchtartig verlassen müssen. Er verstehe, dass Bauarbeiten manchmal notwendig seien, auch nachts. Gerade am Wochenende sollten Störungen jedoch auf ein Minimum reduziert werden. „Wenn um 22 Uhr mit dem Austausch der Bahnschwellen begonnen wird, fühlt man sich wie in einem schlechten Film.“
Maximal genervt wirkt auch Hanno Schlingloff, der an der Bruchstraße in Eppinghofen wohnt. „Sie hören es durch das ganze Winkhauser Tal“, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. „Ich habe die letzten drei Nächte nicht geschlafen, und draußen auf der Terrasse zu sitzen, ist gar nicht möglich.“
Anwohner: „Bahn steht offensichtlich über dem Gesetz“
Der Mülheimer ist regelrecht in Rage. Er schimpft, jedem Bürger drohe ein Bußgeld bei Ruhestörung zwischen 22 und 6 Uhr. „Die Deutsche Bahn steht offensichtlich über dem Gesetz.“ Über die Bundespolizei habe er versucht, einen zuständigen Mitarbeiter der Bahn zu erreichen - vergeblich, sagt Hanno Schlingloff. Vor Ort habe er den zuständigen Ingenieur der Baufirma angetroffen und angesprochen, der sich auf eine Ausnahmegenehmigung für den Betrieb der Baustelle samt Warnanlage berufen habe.
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Schlingloff ist verärgert über die Genehmigung dieser „Lärmbelästigung“ zugunsten der Deutschen Bahn und ihrer wirtschaftlichen Interessen, wie er meint.
Deutsche Bahn: Lärm-Richtwerte dürfen temporär überschritten werden
Dass das Warnsystem Krach macht, bestreitet die Deutsche Bahn nicht. Das Warnsignal müsse lauter sein als die Geräusche der Baumaschinen, damit es während der Arbeiten für alle Beschäftigten gut hörbar ist, heißt es in einem allgemeinen Infoblatt der DB. Sicherheit stehe an erster Stelle. Das System passe sich automatisch der Umgebungslautstärke an.
Die Richtwerte der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Schutz gegen Baulärm“ würden nicht immer eingehalten. „Sie dürfen beim genehmigten, notwendigen Einsatz des ATWS temporär überschritten werden“, heißt es weiter im Statement der Bahn. Denn die Baumaßnahme sei im öffentlichen Interesse erforderlich und könne anders nicht durchgeführt werden.
Teams müssen rund um die Uhr arbeiten, um die Zeit einzuhalten
Zu den aktuellen Gleisbauarbeiten in Mülheim erklärt eine Sprecherin der Deutschen Bahn: „Trotz des Einsatzes modernster Arbeitsgeräte ist (nächtlicher) Baulärm leider nicht immer zu vermeiden.“ Um das umfangreiche Bauvolumen in der angesetzten Zeit umsetzen zu können, müssten die Teams bis zum 2. August rund um die Uhr arbeiten. Bis zum 9. August seien dann Nacharbeiten zu erledigen, denn werde nur noch nachts gearbeitet. Eine Nachtarbeitsgenehmigung sei beantragt und erteilt worden.
Das Amt für Umweltschutz der Stadt Mülheim bestätigt auf Anfrage, dass für den Zeitraum vom 10. Juli bis 9. August Nachtarbeitsgenehmigungen zur Gleiserneuerung erteilt wurden - für die gesamte Strecke zwischen Tourainer Ring (vor dem Hauptbahnhof) und Reuterstraße. Dort kämen automatische Warnsysteme zum Einsatz.
Stadt Mülheim: Betroffenen muss Unterbringung im Hotel angeboten werden
Man habe noch einmal bei der ausführenden Baufirma nachgefragt, heißt es aus dem Umweltamt weiter: Danach dürfte sich der Einsatz der Warnsysteme bald verringern. Zwischen dem 3. und 7. August sollten sie nur noch nachts ertönen - im Zeitraum zwischen 1 und 5 Uhr. Begründung für die Nutzung des Warnsystems: Auf dem Nachbargleis fahren Züge schneller als 140 km/h, daher sei eine Sicherung der Beschäftigten mit einer ATWS gesetzlich vorgeschrieben.
Laut Auskunft der Stadt Mülheim wurden die Bauarbeiten den Anwohnern im Vorfeld angekündigt, auch die Polizei sei über die Art, Dauer und Notwendigkeit der ruhestörenden Arbeiten informiert worden. Das Umweltamt habe zur Auflage gemacht, dass den Betroffenen die Unterbringung in einem Hotel angeboten wird.
Deutsche Bahn: Anwohner können sich bei starkem Baulärm melden
Die Bahn-Sprecherin erklärt, man habe die Anwohnerinnen und Anwohner in den betroffenen Bereichen vorab über die Arbeiten - auch in der Nacht - informiert. Im Bereich von 200 Metern rechts und links neben den Gleisen seien Handzettel verteilt worden. „Darauf finden die Anwohner:innen Kontaktdaten, bei denen sie sich bei starkem Baulärm melden können. Die DB wird dann nach einer Lösung suchen.“ Zuständig für die Verteilung der Flyer sei allerdings die Baufirma, ergänzt die Bahn - und entschuldigt sich, falls einzelne Nachbarn keinen Zettel im Briefkasten gefunden haben.
Anwohner Hanno Schlingloff versichert, er habe keinerlei Benachrichtigung über die Baustelle bekommen. Auch Alexander Warmers sagt: „Wir und alle direkten Nachbarn haben keine Information zur Baustelle bekommen, auch kein Angebot, ins Hotel zu ziehen.“ Wenn es ungünstig läuft, können sie erst Ende kommender Woche wieder ungestört schlafen.
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