Mülheim. So oft wie nie werden Rettungswagen in Mülheim alarmiert, 57 Mal pro Tag. Auch unnötige Krankenfahrten belasten die Feuerwehr. Die Einsatzbilanz.

Die Feuerwehr Mülheim kann einen neuen Rekord vermelden, den dort niemand angestrebt hat und niemand feiert. Insgesamt 20.775 Mal sind im vergangenen Jahr (2023) die Rettungswagen losgerast, im Schnitt fast 57 Mal pro Tag. Jeden Tag. Es waren noch einmal tausend Einsätze mehr als im Jahr zuvor.

Damit hat sich ein Trend ungebremst fortgesetzt, vor dem nicht nur Mülheims Feuerwehrchef Sven Werner seit Jahren warnt: Dauerstress für den Rettungsdienst, chronische Überlastung des Systems, das häufig ohne echte Not alarmiert werde. Im laufenden Jahr - 2024 - könnte die Zahl „ganz leicht sinken“, ergänzt Kai Hübner, Abteilungsleiter des Rettungs- und Einsatzdienstes der Feuerwehr Mülheim. Doch das sei nur eine Prognose. Drastische Verbesserungen erwarte er nicht.

Rettungswagen der Feuerwehr Mülheim rücken immer häufiger aus

Seit Ende der Neunzigerjahre klettert die Kurve stetig nach oben (siehe Grafik). Im Jahr 1997 beispielweise rückten die Rettungswagen (RTW) in Mülheim etwa 5300 Mal aus - inzwischen wird fast das Vierfache erreicht. Etwas weniger Fahrten gab es nur im Jahr 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie. Die Feuerwehr vermutet: Einige Menschen hatten Angst, die 112 zu rufen, ins Krankenhaus zu kommen und sich dort womöglich mit dem neuen Virus zu infizieren. Im Jahr 2022 schnellten die Einsatzzahlen der RTW geradezu nach oben.

„Die Schwelle, den Notruf zu wählen, sinkt seit Jahren“, stellt Mülheims Feuerwehrchef mit Blick auf den Zahlenverlauf fest, „obwohl die Leute nicht kränker sind als früher.“ Dafür sieht er mehrere Gründe: erhöhtes Anspruchsdenken, gesteigerte Erwartungshaltung, aber auch Unsicherheiten. Beispielsweise würden Schulen, Kitas, Sportvereine viel häufiger als früher die 112 alarmieren, wenn sich ein Kind verletzt hat - um sich gegenüber den Eltern abzusichern.

Feuerwehrchef: „Zahnschmerzen sind kein Fall für den Rettungsdienst“

Ähnlich sei es in Pflegeeinrichtungen, ergänzt Feuerwehrsprecher Dennis Goronczy: „Sie dürfen ihre Bewohnerinnen und Bewohner nicht fixieren. Wenn nachts jemand stürzt, wird vorsorglich der Rettungsdienst gerufen, der die alten Menschen ins Krankenhaus bringt und meist schnell wieder zurück.“

In anderen Fällen fehlt den Verantwortlichen der Feuerwehr jegliches Verständnis. Sven Werner nennt ein Beispiel: „38 Grad Fieber bei einem Kind sind nicht bedrohlich. Zahnschmerzen sind kein Fall für den Rettungsdienst, auch wenn sie schlimm sind. Manchmal ist man sprach- und fassungslos.“

Deutlich weniger Krankentransporte im Jahr 2023

Daneben gibt es auch positive Tendenzen: Die Notärztinnen und -ärzte, die an beiden Mülheimer Krankenhäusern rund um die Uhr stationiert sind, verzeichneten 2023 etwas weniger Einsätze als im Jahr zuvor: 5254 gegenüber 5338, eine minimale Erleichterung, aber immer noch mehr als 14 Einsätze pro Tag.

Sven Werner, Leiter der Feuerwehr Mülheim, kritisiert die wachsende Belastung des Rettungsdienstes durch „Notfälle“, die keine sind.
Sven Werner, Leiter der Feuerwehr Mülheim, kritisiert die wachsende Belastung des Rettungsdienstes durch „Notfälle“, die keine sind. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Deutlich seltener angefordert wurden Krankentransportfahrten. Hier gingen die Einsatzzahlen sogar um fast 2000 zurück, die Kurve knickt ab, von 18.182 Einsätzen (2022) auf zuletzt 16.171. Eine stichhaltige Erklärung für diese Veränderung hat die Mülheimer Feuerwehr nicht. Abteilungsleiter Kai Hübner berichtet aber, dass die Zahlen im laufenden Jahr wieder ansteigen. Hier geht es beispielsweise um Patientinnen und Patienten, die aus der Klinik entlassen werden. Die Feuerwehr könnte entlastet werden, indem anstelle des Krankenwagens - wenn möglich und zumutbar - ein Taxi gerufen würde oder Angehörige fahren könnten. „Wir sind hierzu im Gespräch mit den Krankenhäusern“, sagt Kai Hübner, „um darauf hinzuweisen, dass nicht immer ein Krankentransport angefordert werden muss.“

Klinikreform könnte mehr Verlegungsfahrten nötig machen

Neue Herausforderungen könnten sich stellen, wenn die Krankenhausreform greift, die aktuell auch in Mülheim konkret vorbereitet wird. Kliniken sollen sich spezialisieren, während anderswo Angebote und Abteilungen wegfallen. In diesem Zusammenhang äußerte etwa der Mülheimer SPD-Landtagsabgeordnete und Gesundheitsexperte Rodion Bakum die Sorge, es könnte längere Krankentransporte geben, eine zusätzliche Belastung für den Rettungsdienst.

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Auf der anderen Seite könnten auch Verlegungsfahrten entfallen, etwa durch den geplanten Aufbau einer Stroke Unit, eines neuen Schlaganfallzentrums, am St. Marien-Hospital. Feuerwehrleiter Sven Werner erklärt hierzu, noch gebe es keinen Hinweis darauf, dass durch die Krankenhausreform in Mülheim Anlaufstellen wegfallen werden, der Rettungsdienst häufiger umliegende Städte anfahren muss. Die beiden Mülheimer Krankenhäuser könnten zwar keine Maximalversorgung leisten, seien aber „sehr gut aufgestellt, dort können fast alle Notfälle behandelt werden“.

Krankenhausschließungen im Umkreis wirken sich in Mülheim aus

Sorge mache ihm, dass im näheren Umkreis mehrere Krankenhäuser mit Notaufnahme schließen müssen oder bereits geschlossen sind. Als Beispiel nennt er die Sana Kliniken in Duisburg, denen das Aus droht. Patienten würden dann nach Mülheim gebracht - „es wird Verschiebungsprozesse geben“. Umso wichtiger sei es, dem Rettungsdienst Luft zu verschaffen und ihn nicht unnötig zu beanspruchen: „Es passiert, dass Patienten unseren Leuten direkt sagen: ,Wenn Sie mich fahren, komme ich schneller dran‘“, sagt Mülheims Feuerwehrchef. „Eine Unverschämtheit.“

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