Herne. Kann die Justiz heute wieder missbraucht werden? Wie bei den Nazis? Darüber wurde in Herne diskutiert. Ein Jurist machte eine deutliche Ansage.

Im Nationalsozialismus wurde die Justiz zur Durchsetzung einer menschenverachtenden Ideologie missbraucht. Könnte sich das heute wiederholen - in einer Zeit, in der populistische Strömungen weltweit zunehmen? Darum ging es bei einer Veranstaltung der Islamischen Gemeinde Röhlinghausen in Herne, bei der Juristen über die Lehren aus der NS-Zeit diskutierten.

Dirk Reitzig, Vorsitzender Richter am Landgericht und Leiter der Forschungsstelle „Justiz und Nationalsozialismus NRW“, sowie Dirk Frenking, Richter am Oberlandesgericht, erklärten am Montag, 23. September, wie tief die Justiz damals im System des Unrechts verstrickt war. „Die Justiz hat sich dem Regime ohne Widerstand unterworfen“, so Frenking. Besonders schockierend sei die Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ gewesen, das die Zwangssterilisation von 400.000 Menschen legalisiert habe – alles im Namen der „Reinhaltung des Volkskörpers“.

Tuncay Nazik, der Vorsitzende der Islamischen Gemeinde Röhlinghausen, organisierte die Veranstaltung. Er erklärte: „Wir haben heute Gäste, die Nachfahren von Holocaust-Überlebenden sind.“ Das, was damals geschehen sei, dürfe sich nie wiederholen. Ein Gast hat genau davor Angst: „Es erschreckt mich, dass das alles wieder passieren könnte.“ Schließlich habe auch das NS-Unrecht in einem Rechtsstaat begonnen. Richter, die nicht „arischer“ Abstammung gewesen seien, seien massenweise entlassen worden – allein 311 von ihnen in den ersten Jahren der NS-Herrschaft. Die Justiz habe eine zentrale Rolle bei der NS-Herrschaft gespielt.

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„So viel Angst, dass man sie nicht wählt, sollte man haben“

Aus dem Publikum kam die Frage auf, wie man den Aufstieg der AfD bewerten soll: „Ab wann soll man sich Sorgen machen?“, fragte der Imam Ibrahim Nazik. Die Antwort von Frenking war deutlich: „So viel Angst, dass man sie nicht wählt, sollte man haben.“

Abdussamed Nazik, der ein Mitglied der Gemeinde und selbst Jurist ist, kam zu dem Entschluss: Die Vergangenheit zeige, wie schnell ein Rechtsstaat ins Wanken geraten könnte, wenn die Justiz sich zum Erfüllungsgehilfen einer Ideologie macht. Obwohl es heute für Jurastudentinnen und -studenten Pflicht sei, sich mit dem NS-Unrecht auseinanderzusetzen, stelle sich die Frage, ob diese Lehren genug seien, um künftige Gefahren abzuwehren.

Die eindringliche Botschaft des Abends sei klar: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien nicht selbstverständlich – sie müssten jeden Tag verteidigt werden, sagte Tuncay Nazik.