Gelsenkirchen. 80 Jahre nach der NS-Diktatur: Gelsenkirchener Juden und Historiker berichten von ermutigenden und erschreckenden Begegnungen mit Schülergruppen.

Schikaniert, verprügelt, ermordet: Wenn sich im Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt, wird besonders der jüdischen Opfer gedacht. Rund sechs Millionen von ihnen wurden von den Nationalsozialisten getötet. Die Überlebenden und Hinterbliebenen, sie tragen schwer an der Erinnerung. Nicht nur bei ihnen schrillen die Alarmglocken, dass heute laut einer 2024 veröffentlichten Studie auffallend viele einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen wollen. Wissen über und Interesse an der NS-Zeit, so heißt es, nähmen immer weiter ab. Auch in Gelsenkirchen? Die Redaktion hakte nach bei der Jüdischen Gemeinde und im Erler NS-Dokumentationszentrum – und förderte sowohl Ermutigendes als auch Erschreckendes zutage.

Mit den Greueltaten der Nazi-Herrschaft von 1933 bis 1945 abschließen: Das möchten nach der Dunkelfeld-Studie, die die NRW-Antisemitismus-Beauftragte initiiert hatte, rund 47 Prozent. Bis zu 24 Prozent der Befragten ab 16 Jahren seien antisemitisch eingestellt. Diese Zahlen kann die Jüdische Gemeinde vor Ort zwar mangels Erhebungen so nicht bestätigen. Dass das Wissen über diese Zeit bei vielen Besuchenden schwindet, das erlebt die frühere Gemeinde-Vorsitzende Judith Neuwald-Tasbach allerdings sehr wohl, und das seit Jahren.

Wissenslücken bei manchen Besuchern der Gelsenkirchener Synagoge

„Die Mehrheit der Schüler, die bei uns an Synagogen-Führungen und Vorträgen teilnehmen, ist relativ gut vorbereitet. Aber manche Fragen lassen auf große Wissenslücken schließen. So gibt es immer wieder Jugendliche, die das Wort ,Konzentrationslager‘ nicht kennen und auch mit den Namen Bergen-Belsen oder Majdanek nichts anfangen können“, berichtet sie.

Für die Tochter von Kurt Neuwald ist das besonders bitter: Die Nazis ermordeten nahezu alle Familienmitglieder ihres Vaters. Dennoch kehrte er nach seiner Befreiung nach Gelsenkirchen zurück und legte nicht nur den Grundstein für ein neues jüdisches Leben in der Stadt, sondern machte sich immer wieder für Aussöhnung stark.

Gelsenkirchener Jüdin: „Das hat mich sprachlos gemacht“

Judith Neuwald-Tasbach war bis 2022 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Bei Schüler-Führungen durch die Synagoge erlebte sie Ermutigendes und Erschreckendes.
Judith Neuwald-Tasbach war bis 2022 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Bei Schüler-Führungen durch die Synagoge erlebte sie Ermutigendes und Erschreckendes. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Dieses Erbe trat dann auch seine Tochter an. Und so erinnert sie sich auch mit Entsetzen an ein Erlebnis mit einer (nicht aus Gelsenkirchen stammenden) Schülergruppe: „Ein Junge behauptete, an seiner Schule sei es üblich, den Hitler-Gruß zu zeigen. Und die Lehrerin hat das doch tatsächlich bestätigt mit den Worten: ,Aber nur ab und zu!‘ - Ich bin ja wirklich nicht auf den Mund gefallen, aber das hat mich sprachlos gemacht.“

Auch von Hakenkreuz-Schmierereien auf Wänden in Gemeinderäumen und Synagoge berichtet Judith Neuwald-Tasbach. Und es komme immer wieder vor, dass jüdische Gläubige beschimpft würden, die nach dem Besuch der Synagoge vergessen hätten, ihre Kippa vom Kopf zu nehmen. „Das macht uns schon zu schaffen“, sagt sie, freilich nicht ohne zu betonen: „Die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler ist sehr interessiert und aufgeschlossen.“

Ermutigende Erlebnisse: Schülergruppen zeigen sich emotional berührt

So erlebe sie die Lehrerinnen und Lehrer, häufig auch solche mit Migrationsgeschichte, als außerordentlich engagiert. Dabei habe sie sehr positive Rückmeldungen erfahren. „Immer wieder haben Jugendliche nach Führungen meine Hand gegriffen und gefragt: ,Wie können Sie nur die Kraft aufbringen, von solchen schlimmen Erlebnissen zu erzählen?‘“ Andere Gruppen bedankten sich mit Karten für die Besichtigung und die persönlichen Schilderungen, die manche zu Tränen rührten.

Es gebe auch immer wieder Anfragen, ob es möglich sei, einen jüdischen Gottesdienst zu besuchen. „Natürlich ist das möglich, wenn auch derzeit nur nach Voranmeldung“, freut sie sich über dieses Interesse. Sie sieht sie als ermutigenden Beleg, „dass man Jugendliche sehr wohl mit Berichten über den Holocaust erreichen kann“, erst recht sie biografisch eingefärbt sind.

Gelsenkirchenerin: Alle Schüler sollten einmal eine NS-Gedenkstätte besuchen

Umgekehrt werde es immer schwieriger, die zeitliche Distanz zu überbrücken. „Heutige Schüler haben kaum noch familiäre Bezüge zur NS-Zeit, weil ihre Eltern und Großeltern erst nach 1945 geboren wurden.“ Deshalb sei es umso wichtiger, die Erinnerung über die Schule wach zu halten. „Natürlich tragen die Menschen heute keine Schuld“ an der NS-Diktatur und der Verfolgung der Juden. Sie trügen aber die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschehe. „Deshalb befürworte ich auch, dass jede Klasse eine NS-Gedenkstätte besucht. Wer einmal an einer Rampe in einem einstigen KZ stand“ und sich vorstelle, wie es gewesen sein mag, wenn die Eltern ins Gas geschickt wurden, der gehe anders mit dem Thema um.

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Igor Kuznecov als Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde mit 300 Mitgliedern plädiert ebenfalls dafür, persönliche Kontakte auszubauen. „Wir sind offen, das Programm ,Meet a Jew‘ (Triff einen Juden) auch in Gelsenkirchener Schulen zu realisieren.“ Ein Jude oder eine Jüdin besuche dann auf Einladung eine Einrichtung und berichte über den Holocaust oder vom Alltag jüdischer Menschen heute. Interessierte können sich per Mail bei ihm melden (igor.kuznecov@jg-ge.de).

Gelsenkirchener Historiker: „Gerede vom Schlussstrich gibt‘s seit Jahrzehnten“

Dr. Daniel Schmidt leitet das Institut für Stadtgeschichte, dem auch die NS-Dokumentationsstätte in Erle zugeordnet ist. Deren Dauerausstellung zur Geschichte des Nationalsozialismus in Gelsenkirchen wird von vielen Schülergruppen besucht (Archivfoto).
Dr. Daniel Schmidt leitet das Institut für Stadtgeschichte, dem auch die NS-Dokumentationsstätte in Erle zugeordnet ist. Deren Dauerausstellung zur Geschichte des Nationalsozialismus in Gelsenkirchen wird von vielen Schülergruppen besucht (Archivfoto). © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Was Judith Neuwald-Tasbach über Schmierereien berichtet, das kann Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte (ISG), in Bezug auf die NS-Dokumentationsstätte an der Cranger Straße nicht bestätigen. „Unsere Besuchergruppen wissen sich zu benehmen“, erklärt er auf Anfrage. Unangemessene „dumme Sprüche“ von „Klassenkaspern“ seien dabei keine Entwicklung der letzten Jahre. „Die hat es schon immer gegeben. Und die haben nach meinem Eindruck auch nicht zugenommen.“

Ob das Wissen über die NS-Zeit tatsächlich schwindet? „Der Kenntnisstand der Schüler wird nicht systematisch erhoben. Wir erleben sie aber in aller Regel gut vorbereitet und interessiert.“ Dass der Zugang zu dem Thema und das „Familienwissen“ aufgrund des zeitlichen Abstands nicht mehr so unmittelbar gegeben seien wie früher, lasse sich den Jugendlichen nicht vorwerfen.

Und was das „Schlussstrich-Gerede“ angehe, so Dr. Schmidt, „so gibt‘s das auch schon seit Jahrzehnten.“ Das Interesse an Führungen durch die Dauerausstellung, es habe seit Corona eher zugenommen. „2022 verzeichneten wir 2500 Besucherinnen und Besucher, 2023 waren es 3500, und in Bezug auf 2024 gehen wir davon aus, dass es noch einmal mehr waren.“ Allein im Januar 2025 hätten sich 14 Gruppen angemeldet, darunter neun Schulklassen und fünf VHS-Kurse.

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