Gelsenkirchen. Zwei Gelsenkirchener halfen tatkräftig, Hitlers „Säuberungspläne“ umzusetzen. Eine Ärztin und ein Maurer kannten dabei keine Skrupel.
- Dr. Maria Goetz schrieb todbringende Gutachten. Und machte unter den Nazis Karriere
- Der Maurer Lorenz Hackenholt half bei der Konstruktion der Gaskammern
- Beide wurden nach dem Krieg nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht
Sie sind gerade vorüber, die Internationalen Wochen gegen Rassismus, an denen sich auch Gelsenkirchen mit vielen Veranstaltungen beteiligt hat. Abgehakt ist das Anliegen damit allerdings nicht: Gegen Ausgrenzung aktiv zu werden, bleibt eine Aufgabe, gerade auch für eine Stadt, in der so mancher NS-Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Darunter die Gesundheitsamt-Ärztin Dr. Maria Goetz, der etliche Kinder zum Opfer fielen, sowie der „Gaskammer-Experte“ Lorenz Hackenholt. Mit seinen Erfindungen professionalisierte dieser die Ermordung von Juden und Roma in Polen auf grausame Weise.
Blonde Wasserwelle, helle Augen, wacher Blick: Dass Dr. Maria Goetz (1900-1992) zahlreiche Mädchen und Jungen in den Tod geschickt hat, sieht man ihr, wie vielen Verbrecherinnen und Verbrechern, nicht an. Nach dem Medizin-Studium in Würzburg, Köln und Freiburg ab 1931 Assistenzärztin in Gelsenkirchen, zählte sie ab 1934 zu denjenigen Ärzten im Gesundheitsamt, die das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vor Ort umsetzten, sprich: Kinder auf Behinderungen und Erkrankungen untersuchten, die in den Augen der menschenverachtenden NS-Ideologie als „lebensunwert“ galten.
Als unheilbar geltende Gelsenkirchener Kinder konnten Dr. Goetz nicht entkommen
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Schon seit ihrer Einstellung war sie zuständig für die ärztliche Betreuung von Kindern des katholischen Fürsorgevereins Gertrudisstift sowie den größten Teil der städtischen „Krüppelfürsorge“, wie es damals hieß. Auch Schuluntersuchungen, die Überwachung von Kindergärten und die Tuberkulose-Fürsorge fielen in ihr Aufgabengebiet. Damit wurde ein Großteil der Gelsenkirchener Mädchen und Jungen von ihr medizinisch betreut. Wem keine Chance auf Heilung attestiert wurde, der konnte ihr kaum entkommen.
Als Sympathisantin mit dem NS-Regime nutzte sie die Möglichkeiten, unter den neuen Machthabern Karriere zu machen: Nachdem sie zwischen 1934 und 1938 in verschiedene NS-Organisationen, in den NS-Ärztebund sowie den NS-Fliegerkorps eingetreten war, wurde sie 1937 erst Beamtin auf Lebenszeit und dann 1937 zur Städtischen Medizinalrätin befördert. Damit war sie weiterhin für die Kinder- und Säuglingsfürsorge verantwortlich.
Die Gutachten der Gelsenkirchenerin entschieden über Leben und Tod der Kinder
Ihre Gutachten, sie entschieden über Leben und Tod: Sie überwies kranke Mädchen und Jungen nicht nur in Heil- und Pflegeanstalten. Mit Diagnosen wie „nicht heilbar“ oder „unverändert“ fällte sie manches Mal auch ein Todesurteil. Hitler sprach in diesem Zusammenhang in einem Schreiben vom Oktober 1939 zynisch von „Gnadentod“. Und Ärzte wie Dr. Goetz füllten Meldebögen aus: Ein rotes Kreuz bedeutete den Tod, ein blauer Strich das Leben.
Spezielle Gutachter werteten diese Bögen aus. Die meisten der als „nicht lebenswert“ klassifizierten Gelsenkirchener Opfer kamen dann in die Tötungsanstalt Hadamar in Hessen, wo sie in einem Gasraum ermordet wurden. Etwa die junge Helene P. (26), der Dr. Goetz eine Epilepsie mit Verwirrtheit attestiert hatte. 1938 wurde sie deshalb erst zwangssterilisiert, 1941 schließlich mit Gas umgebracht.
Mindestens 200 Gelsenkirchener fielen der Kranken-Ermordung zum Opfer
Insgesamt 300.000 Kranke fielen dieser durch ärztliche Meldungen in Gang gesetzten NS-Maschinerie bis 1945 zum Opfer, darunter nach Angaben des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) mindestens 200 Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener.
„Damit hat Maria Goetz zwar nicht selbst aktiv Menschen getötet. Aber ihre Untersuchungen und Gutachten waren die Grundlage für die Ermordung der Kinder“, ordnet ISG-Leiter Dr. Daniel Schmidt sie als „Schreibtisch-Täterin“ ein und betont: „Das Beispiel der Ärztin Goetz zeigt, dass die Verfolgung von NS-Gegnern von den Verwaltungen vor Ort umgesetzt wurde.“ Sprich: Ohne diese kleinen Rädchen hätte das große NS-Getriebe niemals so gut funktioniert.
Gesundheitsamt-Ärztin aus Gelsenkirchen wurde nie zur Rechenschaft gezogen
Zu verantworten brauchte sich die Ärztin nach 1945 nicht für ihre Taten: „Sie fiel als politisch unbedenklich durch das Raster der Entnazifierung“, so der Historiker. Und nicht nur das: Neben Lob und Anerkennung für ihre „treuen Dienste“ erhielt sie auch eine ordentliche Rente.
Dass kein Kollege, keine Kollegin im Gesundheitsamt ihre Verbrechen zur Sprache brachte, dass niemand sie anzeigte, sei ebenfalls typisch in der Nachkriegszeit gewesen, sagt Schmidt. „Insgesamt waren alle an der Umsetzung der verbrecherischen NS-Gesetzgebung beteiligt. Hätte jemand mit dem Finger auf Goetz gezeigt, wäre auch seine oder ihre Beteiligung ans Licht gekommen.“
NS-Täter Hackenholt aus Gelsenkirchen fuhr zunächst Kranke zu Tötungsanstalten

Noch „aktiver“ als die Ärztin in Sachen Mord war Lorenz Hackenholt. 1914 in Gelsenkirchen geboren, war er ebenfalls ein überzeugter Nationalsozialist: 1933 trat der gelernte Maurer 19-jährig in die SS ein, absolvierte die SS-Führerschule in Rotthausen, eine vormilitärische Ausbildung und weltanschauliche Schulung. Er muss spätestens seit seinem Einsatz als Wachmann im KZ-Sachsenhausen gewusst haben, worum es den NS-Machthabern besonders ging: Um die Auslöschung möglichst aller Juden.
In Oranienburg war Hackenholt zuständig für den SS-Fuhrpark und chauffierte Kommandanten und KZ-Personal. 1939 wurde er dann der berüchtigten „Aktion T4“ zugeteilt, jener neuen Berliner Zentraldienststelle, deren sechs Heilanstalten tatsächlich Tötungseinrichtungen für Kranke waren. Dort fuhr er unter anderem die „grauen Busse“, in denen die Opfer in die Anstalten gebracht wurden, entsorgte aber auch deren Leichen.
„Aktion Reinhardt“: In Polen konstruierte Hackenholt Gaskammern

Als die „Euthanasie“-Morde Ende 1941 offiziell eingestellt wurden, wechselte Hackenholt zur nicht minder berüchtigten „Aktion Reinhardt“ nach Polen. Im Vernichtungslager Belzec nutzten er und andere „T4“-Männer ihre Erfahrungen aus dem Krankenmord, so das ISG, und bauten an einer ersten Gaskammer mit. Ziel war eine schnellere massenhafte Tötung – eben eine „Industrialisierung“. Der gebürtige Gelsenkirchener konnte da auf Experimente mit „Gaswagen“ zurückgreifen, bei denen Menschen als „Versuchskaninchen“ benutzt und mit Motorauspuffgasen ermordet worden waren.
Hackenholt stellte sein grausames „Organisationstalent“ eindrücklich unter Beweis: In der von ihm mitkonstruierten Gaskammer wurden allein im Frühjahr 1942 über 50.000 Jüdinnen und Juden brutal ermordet. Er legte dabei selbst Hand an und bediente den Motor, mit dessen Abgasen die Menschen erstickt wurden.
Auch Hackenholt wurde nie bestraft – er blieb nach Kriegsende verschwunden
So erarbeitete er sich einen Ruf als „Gaskammer-Experte“. Später entwarf er eine größere Gaskammer in Belzec, die auch als „Stiftung Hackenholt“ bezeichnet wurde, und wirkte am Bau von Gaskammern in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor mit.
Auch nach dem Abschluss der „Aktion Reinhardt“ setzte er sein mörderisches Handwerk fort: Ab 1943 war der SS-Hauptscharführer in der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ bei Triest in Italien eingesetzt, um die jüdische Bevölkerung zu verfolgen und Partisanen zu bekämpfen.
Bestraft wurde er für diese Verbrechen nie. Im Frühjahr 1945 zuletzt lebend gesehen, galt er nach dem Krieg als vermisst. Einstige Kameraden gaben an, ihm auch nach dieser Zeit begegnet zu sein, weshalb die Fahndung bis 1963 fortgesetzt wurde. Ob er unter falschem Namen in Deutschland blieb oder sich ins Ausland absetzte, ist unklar. Fest steht nur: „Er war ein Massenmörder. Innerhalb von 17 Monaten half er, in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka 1,7 Millionen Menschen umzubringen“, sagt Historiker Schmidt und muss feststellen: „Man kann ihn noch nicht einmal als besonders ,engagiert’ bezeichnen. So wie Hackenholt waren viele NS-Mörder.“
Leibniz-Gymnasiasten von lokaler NS-Geschichte erschüttert
Wie die NS-Ideologie in der Emscherstadt Fuß fasste, können Interessierte in der Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ in Erle anschaulich erfahren – so etwa der Differenzierungskurs „Kunst & Geschichte“ des Jahrgangs 9 des Leibniz-Gymnasiums Buer. Wie Lehrerin Sandra Pruß berichtet, erschütterte der Bezug zur lokalen Geschichte die Schülerinnen und Schüler besonders. Dass im Verhörraum Menschen umgebracht wurden, die Ärztin Dr. Goetz sowie Lorenz Hackenholt nie zur Rechenschaft gezogen wurden, entsetzte sie nachhaltig.Die Schülerinnen entdeckten auch, dass es in Buer noch eine Skulptur aus der NS-Zeit gibt: Die Olympia von Fritz Klimsch (1936), die im Kunstmuseum Buer steht.Die NS-Dokustätte an der Cranger Straße 323 ist außerhalb der Ferien vorübergehend zu folgenden Zeiten geöffnet: dienstags und freitags von 10 bis 17 Uhr sowie nach Vereinbarung. Der Eintritt ist frei. Es gibt auch einen virtuellen Rundgang über die Homepage www.institut-fuer-stadtgeschichte.de