Gelsenkirchen-Buer. Von Gelsenkirchener angehimmelt, mit „launischer“ Bueranerin im Versteck: Diese Verbindungen zur Emscherstadt gibt‘s im Tagebuch von Anne Frank.
80 Jahre ist es jetzt her, dass Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck entdeckt wurde. In jenes Hinterhaus an der Prinsengracht hatte sich freilich nicht nur Familie Frank vor den Nazis geflüchtet. Auch ein Zahnarzt und eine weitere Familie hofften, so als Juden der Deportation in ein KZ zu entgehen; darunter, wie sich 2016 herausstellte, die Bueranerin Auguste van Pels. Wer in dem weltberühmten Tagebuch blättert, stößt allerdings noch auf einen weiteren Bezug zu Gelsenkirchen: Anne berichtet von einem jungen Mann, der sich vor dem Untertauchen in sie verliebt habe: Bei diesem „Harry Goldberg“ handelt es sich um Helmut Silberberg, geboren und aufgewachsen in der Emscherstadt.
Ob aus dem klugen, temperamentvollen Mädchen und dem drei Jahre älteren Helmut ein Paar hätte werden können, wenn Familie Frank sich nicht Hals über Kopf hätte verstecken müssen: reine Spekulation! Fakt ist, dass Anne den 16-Jährigen in mehreren Eintragungen nicht nur erwähnt, sondern die Begegnungen als beginnende Freundschaft beschreibt. Und damit die Erinnerung an zwei jüdische NS-Verfolgte aus Buer und Gelsenkirchen wachhält, von denen nur einer Krieg und Verfolgung mit viel Glück überlebt hat.
Anne Frank schwärmt in ihrem Tagebuch von Gelsenkirchener Helmut Silberberg
Die 13-Jährige, die bis zur Übersiedlung nach Amsterdam im Februar 1934 in Frankfurt geboren und aufgewachsen war, hatte gerade zum Geburtstag am 12. Juni 1942 ein Tagebuch bekommen, als sie den dunkelhaarigen Helmut Ende Juni über eine Freundin kennenlernte. „Harry“, so sein Pseudonym in ihrem Text, „ist allein zu seinen Großeltern hierher nach Holland gekommen, seine Eltern sind in Belgien.“
Wie das Amsterdamer Anne-Frank-Haus recherchiert hat, waren es Helmuts Eltern Leo Silberberg und Selma Silberberg-Levie, die ihn im November 1938 nach den Pogromen in der sogenannten „Reichskristallnacht“ in den Zug zu seinen Großeltern setzten. Ihnen selbst war die Flucht dorthin nicht möglich, sie reisten ins belgische Brüssel.
Für Anne Frank trennte sich Gelsenkirchener von seiner Freundin Fanny

Wie groß der Kontrast für den Zwölfjährigen gewesen sein muss, lässt sich nur erahnen: Von der Jüdischen Volksschule an der Ringstraße 44 in Gelsenkirchen kommend, hieß es für ihn nun, Niederländisch in einem Sprachkurs für Immigrantenkinder in Amsterdam zu pauken. Und seine Eltern - bis zur Flucht Mitbetreiber eines Bekleidungsgeschäfts an der Bochumer Straße 12 - waren weit weg. Aus einem liberalen jüdischen Elternhaus stammend, besuchte Helmut in Amsterdam eine Privatschule für Tischler, nahm an Sitzungen eines zionistischen Jugendclubs teil - und lernte im Juni 1942 Anne Frank kennen.
Wie es in ihrem Tagebuch heißt, sei der „sympathische Junge“ bisher mit einem anderen Mädchen zusammen gewesen, habe aber beim Vergleich mit Anne entdeckt, dass er an der Seite dieser Fanny „beinahe einschläft“. Demgegenüber sei sie für ihn „so eine Art Belebungsmittel“. Tatsächlich trennte sich „Harry“ offenbar gegen den Willen seiner Großmutter von Fanny und forcierte die Freundschaft mit Anne. Sie besuchten einander zu Hause („Ich hatte Torte, Süßigkeiten und Keks geholt. Dazu gab es Tee“) oder gingen miteinander spazieren.
Anne Frank bestreitet, in Gelsenkirchener verliebt zu sein - freut sich aber über die Bewunderung

„Ich merke, daß Harry sehr verliebt in mich ist, und ich finde es zur Abwechslung ganz hübsch“, schreibt sie am 3. Juli 1942, nicht ohne zu betonen: „Ich bin gar nicht verliebt.“ Gleichwohl zitiert sie ihre Mutter: „Ein hübscher Junge, sehr nett und gut erzogen“ und freut sich, „daß Harry der ganzen Familie so gut gefällt, und er findet auch alle sehr nett.“
Nur wenige Tage später sahen sie sich zum letzten Mal: Nachdem Annes Schwester Margot einen Aufruf erhalten hatte, sich beim Reichsarbeitsdienst zu melden, tauchte die Familie früher als ohnehin schon geplant unter und versteckte sich in dem Hinterhaus eines unauffälligen Bürogebäudes der Firma, in der Otto Frank tätig war und das heute als Teil des Museums Anne-Frank-Haus besichtigt werden kann.
Gebürtige Bueranerin Auguste van Pels versteckte sich mit Anne Frank in Amsterdamer Hinterhaus

Von dort aus führte Anne ihr Tagebuch fort, bis die zuletzt acht Personen am 4. August 1944 verhaftet wurden. Sie beschreibt darin ungeschönt das schwierige Zusammenleben auf engstem Raum und kann besonders an „Petronella van Daan“ wenig Schmeichelhaftes finden. Es ist das Pseudonym für Auguste van Pels geb. Röttgen, die am 29. September 1900 in der damals noch selbstständigen Stadt Buer geboren wurde und auch die ersten Lebensjahre verbrachte.
„Laut Geburtsurkunde wohnten ihre Eltern an der Hochstraße 1“, so 2016 Dr. Daniel Schmidt, Historiker am Institut für Stadtgeschichte (ISG). Darauf „gestoßen“ hat das ISG ein Bürger aus Melle, der auf der Suche nach der Geburtsurkunde Auguste Röttgens in seinem Heimatort eben nicht fündig wurde. In Buer bei Melle war bis dato der Geburtsort von Auguste Röttgen vermutet worden. „Also recherchierte er in Gelsenkirchen, dessen Stadtteil Buer ja bis 1928 selbstständig war; mit Erfolg.“
Vater von Auguste van Pels betrieb ein Kaufhaus in Buer

Ihr Vater Leo Röttgen engagierte sich in der jüdischen Gemeinde an der Maelostraße und betrieb ein Kaufhaus in Buer, verkaufte es aber 1905 an die Familie Alsberg und zog mit seiner Frau Rosa Röttgen-Rosenau und den fünf Töchtern erst nach Essen, dann nach Elberfeld. 1925 heiratete Auguste Röttgen den jüdischen Niederländer Hermann van Pels, Ende 1926 kam Sohn Peter zur Welt.
Der Alltag in Deutschland mit den immer strengeren Maßnahmen gegenüber Juden wurde für die junge Familie jedoch immer schwieriger, sodass sie 1937 in die Niederlande flüchtete, wo sie sich mal hier, mal dort versteckte. 1938 begann Hermann van Pels, für die Firma Pectacon von Anne Franks Vater zu arbeiten. So kam es auch zu der nicht ganz freiwilligen Wohngemeinschaft im Hinterhaus ab Juli 1942.
Im Tagebuch schildert Anne Frank die Bueranerin als streitsüchtig und launisch
Die räumliche Enge, das Fehlen jeglicher Privatsphäre, die Angst vor einer Entdeckung: Wie sehr dies alles die acht Bewohnerinnen und Bewohner belastete, schildert Anne Frank sehr eindringlich. Immer wieder kam es zu Reibereien zwischen den Familien, besonders mit „Petronella van Daan“.
Ob sich die gebürtige Bueranerin nun weigerte, den Abwasch zu übernehmen, ihr Familienservice für alle Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, lautstark mit ihrem Mann stritt, ihren Sohn schlug oder Otto Frank anflirtete: Das Mädchen empfand sie als launisch, egoistisch und streitsüchtig, kurz: „unausstehlich“.
Bueranerin Auguste van Pels starb wohl im April 1945 auf dem Weg ins KZ Theresienstadt
Wie authentisch die Schilderungen sind, ist unklar. Denn darüber hinaus ist lediglich die Beschreibung von Helferin Miep Gies überliefert, die die Bewohner mit Lebensmitteln, Nachrichten und Büchern versorgte: Die Dame sei „hübsch“ und „ein wenig kokett“ gewesen. Dass sie wie die übrigen Flüchtlinge verzweifelt war und sich ausgeliefert fühlte, dürfte hingegen als sicher gelten.
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Im August 1944 wurden alle acht Untergetauchten verraten und verhaftet. Zunächst ins KZ Auschwitz-Birkenau, dann nach Buchenwald deportiert, starb Auguste van Pels wohl während eines Transports ins KZ Theresienstadt am 9. April 1945. Annes Vater Otto Frank überlebte als einziger Hinterhaus-Bewohner.
Gelsenkirchener Helmut Silberberg überlebte Verfolgung und siedelte in die USA um
Helmut Silberberg jedoch, der jüdische Flüchtling aus Gelsenkirchen, überlebte das Grauen der NS-Verfolgung und des Krieges. Bei einer Razzia im Sommer 1942 verhaftet, gelang es ihm in der letzten Minute, vom Laster der Militärpolizei zu springen und nach Belgien zu seinen Eltern zu flüchten. Nahe Brüssel versteckte sich die Familie bis zur Befreiung der Stadt im September 1944 rund 25 Monate lang. Über Antwerpen siedelte Silberberg schließlich zu seinem Onkel in die USA über, wo er unter dem Namen Edmont Silverberg ein neues Leben anfing, heiratete und mit seiner Frau zwei Kinder bekam. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Teilhaber einer Vertriebsgesellschaft für Laborgeräte.
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Zu Gelsenkirchen brach der Kontakt nicht ab. Andreas Jordan, Betreiber des Vereins für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Gelsenkirchen, erzählte Silberberg ebenso seine Geschichte wie dem protestantischen Pfarrer und Religionslehrer Willi Everding sowie dessen Schülern am Berufskolleg Königstraße. Er engagierte sich u.a. im Anne-Frank-Haus Amsterdam für die Erinnerung an die im Holocaust ermordeten Menschen. Silberberg starb im Juni 2015. Die Erinnerung an ihn aber bleibt, ebenso wie die an die Bueranerin Auguste van Pels: im Tagebuch der Anne Frank, das weltweit immer noch gelesen wird.