Gelsenkirchen-Erle. . Die Erler Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ wurde überarbeitet: Neu sind der Aspekt „Edelweißpiraten“ – und O-Töne.

Dem NS-System in der Stadt (nicht nur) ein Gesicht zu geben: Darum bemüht sich die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ an der Cranger Straße seit ihrer Eröffnung 1994. Nun verschafft sie ihm auch (mehr als) eine Stimme, buchstäblich: Das Institut für Stadtgeschichte (ISG) hat die Dauerausstellung technisch so modernisiert, dass Besucher auf Knopfdruck rund 15 O-Töne abrufen können. Zusätzlich wurde sie inhaltlich um den Aspekt „Edelweißpiraten“ erweitert – museumstechnisch auf dem neuesten Stand, versteht sich.

Den alten Volksempfänger im Eingangsbereich haben ISG-Leiter Stefan Goch und Historiker Daniel Schmidt gleichsam zum Sprechen gebracht: Über zwei „Hörknubbel“ genannte Lautsprecher ertönt etwa die Stimme des Gelsenkircheners Alfred Meyer, Gauleiter Westfalen-Nord, als er 1933 für die Volksabstimmung zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund Stimmung machte.

Goebbels Rede vom „Totalen Krieg“ als T-Ton

Der alte Volksempfänger wurde wieder zum Sprechen gebracht: Auf Knopfdruck gibt’s jetzt historische Rundfunk-Aufnahmen aus der NS-Zeit, wie Doku-Stätten-Leiter Stefan Goch und die pädagogische Mitarbeiterin Birgit Klein demonstrieren.
Der alte Volksempfänger wurde wieder zum Sprechen gebracht: Auf Knopfdruck gibt’s jetzt historische Rundfunk-Aufnahmen aus der NS-Zeit, wie Doku-Stätten-Leiter Stefan Goch und die pädagogische Mitarbeiterin Birgit Klein demonstrieren.

Andere Original-Aufnahmen thematisieren zum Beispiel die Bücherverbrennung im Mai 1933, Hitlers Begeisterung für den Autobahnbau 1935, die Rolle der Frauen als Mütter im Krieg oder die aufgeheizte Atmosphäre im Berliner Sportpalast, als Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels nach der Niederlage von Stalingrad 1943 den „totalen Krieg“ ausrief. Auch Ton-Dokumente von Zeitzeugen des Widerstands finden sich darunter, etwa von der früheren SPD-Stadtverordneten Paula Grenz (1911-1997) oder der Gewerkschafterin Helene Badziong (1917-1998).

Verteilt sind die O-Töne auf fünf Räume, wo Texttafeln und mehr als 800 historische Bilder die Bedingungen veranschaulichen, unter denen die „Volksgemeinschaft“ bereit war, an rassistisch oder ideologisch motivierten Verbrechen mitzuwirken, sie zu dulden, abzulehnen oder dagegen aufzubegehren. „So gelingt es uns, unsere Besucher verstärkt auf der emotionalen Ebene anzusprechen, was gerade bei Schülergruppen sinnvoll ist“, betont ISG-Mitarbeiter Schmidt, der die Aufnahmen im Frankfurter Rundfunk-Archiv recherchierte.

Edelweißpiraten: „Keine Lust auf Volksgemeinschaft“

Sowohl für Einzelbesucher als auch für Gruppen sind die neuen Hörstationen geeignet, wie Projektmitarbeiterin Sarah Gartner zeigt.
Sowohl für Einzelbesucher als auch für Gruppen sind die neuen Hörstationen geeignet, wie Projektmitarbeiterin Sarah Gartner zeigt.

Von ihm stammen auch die neuesten Forschungsergebnisse zu den „Edelweißpiraten“. Unter dem Titel „Keine Lust auf Volksgemeinschaft“ skizziert er das Schicksal unangepasster 15- bis 18-Jähriger, die sich im zwangsstrukturierten NS-Alltag zwischen HJ, BDM und Arbeitszeiten nach Freiräumen sehnten: Als „wilde Cliquen“ unternahmen sie Fahrten und grenzten sich durch Kleidung, Lieder und Abzeichen von linientreuen Heranwachsenden ab. „Das war zunächst nicht politisch motiviert, wurde von den Nazis aber so interpretiert“, erklärt Schmidt.

Ende 1937 nahm die Gestapo eine rund 25-köpfige Gruppe aus Gladbeck, Scholven und Buer fest. Ein Gericht verurteilte sie 1938 zu Geldstrafen. Eine andere mit 50 Gelsenkirchener Jugendlichen kam 1943 nicht so glimpflich davon: Die meisten erhielten Jugendstrafen von wenigen Wochen, mehrere „Rädelsführer“ jedoch Freiheitsstrafen zwischen fünf Monaten und einem Jahr.

Die Fotos dazu können per Knopfdruck „zum Sprechen gebracht“ werden. So erfahren Besucher von „Hubert aus Gladbeck“, was ihn an den „Edelweißpiraten“ faszinierte – natürlich ganz authentisch: im Ruhrgebiets-Dialekt.