Gelsenkirchen-Buer. Vor 90 Jahren: Den Baubeginn in Gelsenkirchen inszenierten die Nazis 1934 als Propaganda-Spektakel. Was tatsächlich dahinter steckte.
Hakenkreuz-Fahnen flatterten im Erler Wind, die Hitlerjugend schmetterte deutsche Märsche, und rund 100.000 Menschen jubelten auf dem Festplatz nahe Schloss Berge: Was als symbolischer erster Spatenstich für den Bau der „Reichsautobahn“ auf Gelsenkirchener Gebiet angekündigt war, das inszenierten die neuen NS-Machthaber am 21. März 1934 als Propaganda-Spektakel. Schließlich sollte die „Volksgemeinschaft“ die Maßnahme als „Aufmarsch für die Arbeitsschlacht“ in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zu würdigen wissen. Dabei ging es maßgeblich um etwas ganz anderes.
Schon früh um 7 Uhr ging es an jenem Morgen vor 90 Jahren los für die Arbeitslosen, Feierschichtler, Gewerkschafter, Angestellten und Beamten: Zum Dienst verpflichtet, hatten sie sich geschlossen an den Sammelstellen in allen Ortsteilen einzufinden, um zur Jubelfeier mit Kundgebungs-Charakter südlich von Eschfeldstraße und Berger See aufzubrechen. Sie sollten die Jubel-Kulisse bilden für den ersten Spatenstich, den der aus Gelsenkirchen stammende nordwestfälische Gauleiter Dr. Alfred Meyer um 11.55 Uhr vollzog, unter lauten „Sieg-Heil“-Rufen auch zahlreicher freiwilliger Zaungäste, versteht sich.
Nazis versprachen Gelsenkirchen Massenmotorisierung und technischen Fortschritt
Der große Bahnhof verfehlte seine Wirkung nicht: Die gleichgeschaltete lokale Presse schwärmte von der „gigantischen“ und „historischen“ Maßnahme, die auch Fritz Todt, den Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, zu ordentlich Pathos beflügelte: Mit der Autobahn werde „vom Führer“ ein „achtungsgebietendes Bauwerk“ geschaffen, „von seinem Willen kündend, die Geißel der Arbeitslosigkeit zu vernichten.“
Dabei nutzten die Nazis das Projekt auch für ihre Propaganda, indem sie der „Volksgemeinschaft“ eine Massenmotorisierung und die Teilhabe am technischen Fortschritt versprachen, so Dr. Hendrik Martin Lange und Christina Lefarth in einer Publikation des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL).
Tausende Gelsenkirchener Jugendliche mussten beim Bau der Reichsautobahn helfen

Dass es sich bei dem neun Kilometer langen Gelsenkirchener Teilstück genau wie bei dem Rest der „Reichsautobahn“ aber weder um ein herkömmliches Infrastruktur-Projekt noch um eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme handelte, darauf macht Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, aufmerksam: Der Bau der heutigen Bundesautobahn A 2 sollte vom Rhein bis Ostpreußen reichen, den wirtschaftlich wichtigen Westen mit dem Osten verbinden – und sei damit Teil der Aufrüstung gewesen. „Ziel war es, neue Wirtschaftszweige anzukurbeln und die rasche Bewegung motorisierter Verbände zu ermöglichen“, so Schmidt.
Knapp vier Jahre sollte es dauern, bis die insgesamt vierspurige „Straße des Führers“ auf Gelsenkirchener Gebiet fertiggestellt war. Sie war Teil des Bauabschnitts Oberhausen - Kamen; weitere bildeten die Strecken Kamen - Hannover, Hannover - Magdeburg und Magdeburg - Berlin. Es wurde parallel an zwölf verschiedenen Stellen gebaut. Zur Arbeit herangezogen wurden dabei ab 1935 in Gelsenkirchen auch männliche Jugendliche im Rahmen des obligatorischen Reichsarbeitsdienstes. Zu Tausenden, so Lefarth und Lange, waren sie im Einsatz, meist nur mit einem Spaten ausgerüstet.
Zur Eröffnung kam Gauleiter Meyer nach Gelsenkirchen - später Teilnehmer der Wannsee-Konferenz

Wie beim ersten Spatenstich war es Gauleiter Meyer, der das Gelsenkirchener Teilstück der projektierten 28-Kilometer-Linie Buer-Bottrop-Oberhausen Ende 1937 feierlich eröffnete: Jener Mann, der später bei der Wannsee-Konferenz eine nicht unwesentliche Rolle bei der Organisation des Holocausts spielen sollte: Er drängte im Januar 1942 darauf, die Vernichtungsmaßnahmen auch auf „jüdischen Mischlinge“ auszudehen und trug so nach Historiker-Auffassung erheblich zur Erhöhung der Opferzahlen bei.
Den rechten Arm zackig zum Hitlergruß hochgereckt, durchfuhr Meyer am 17. Dezember 1937 im geschmückten Mercedes-Cabrio ein seidenes Band, erneut umgeben von Tausenden jubelnden Menschen. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Carl Böhmer schwärmte: Nun sei die Emscherstadt an das „große Straßennetz des Führers“ angeschlossen.
So beurteilen Historiker den Effekt des Autobahnbaus auf die Massenarbeitslosigkeit

Dass der Autobahnbau wesentlich zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit beigetragen habe, wie mitunter heute noch gerne behauptet wird: „Diesen Effekt beurteilen Historiker heute skeptisch. Zwar schuf der Autobahnbau zeitweise rund 130.000 Arbeitsplätze. Das war allerdings angesichts von sechs Millionen Erwerbslosen in 1932 und immer noch 1,8 Millionen 1936 eher ein Tropfen auf dem heißen Stein“, stellt ISG-Leiter Dr. Schmidt klar.
Auch sei Hitler alles andere als der „Erfinder der Autobahn“ gewesen, zu dem er sich selbst gerne stilisierte. In Amerika gab es bereits US-Highways und in Italien die 130 Kilometer lange Autostrada zwischen Mailand und den oberitalienischen Seen. Und: Schon in der Weimarer Republik waren entsprechende Pläne entwickelt, aber aus Finanznot nicht realisiert worden. „Die Nazis adaptierten diese Pläne 1933“; im Ruhrgebiet etwa konnten sie auf Entwürfe des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk zurückgreifen, den Vorgänger des heutigen Regionalverbands Ruhr (RVR).
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Die „Reichsautobahn“ Ruhrgebiet - Berlin freilich, sie sollte nach ihrer Teilfertigstellung durch einen polnischen Korridor bis zur ostpreußischen Hauptstadt Königsberg führen – Synonym für die militärische Niederlage der Nationalsozialisten im April 1945, wie Historiker Prof. Dr. Stefan Goch betont.
Der Autobahnbau wird auch in der Dauerausstellung „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ in der Erler Dokumentationsstätte an der Cranger Straße 323 thematisiert, zu der auch ein virtueller Rundgang online verfügbar ist. Die Ausstellung ist (außerhalb der Schulferien) dienstags und freitags von 10 bis 17 und mittwochs von 10 bis 18 Uhr sowie nach telefonischer Terminvereinbarung (0209 169-8557) geöffnet. Der Eintritt ist frei.