Gelsenkirchen. Am 9. November 1938 zerstörten Nazis die zwei Gelsenkirchener Synagogen. Auch normale Bürger machten Jagd auf Menschen jüdischen Glaubens.
Hier Hakenkreuz-Schmierereien an Häuserfassaden, dort menschenverachtende „Judenwitze“ in Messenger-Chats: Die braune Ideologie, sie scheint in Nischen immer noch gegenwärtig, auch wenn das Ende des NS-Regimes 75 Jahre her ist. Grund genug, zum 82. Jahrestag der Pogrome vom 9. November 1938 zurückzublicken auf jene Nacht, in der sich auch in Gelsenkirchen der Hass auf Menschen jüdischen Glaubens Bahn brach, sie selbst attackiert, ihre Geschäfte und Bethäuser angegriffen und zerstört wurden.
Was in der Forschung als Auftakt für die systematische Vernichtung der Juden in Europa durch das NS-Regime gilt, das traf in der Emscherstadt mehrere Hundert Menschen: „1933 waren es 1616 sogenannte ,Glaubensjuden’ (mit drei oder vier jüdischen Vorfahren und Zugehörigkeit zu jüdischen Religion), 1939 lebten nur noch 720 von ihnen in Gelsenkirchen“, so Daniel Schmidt, Leiter des.
Gleichgeschaltete Presse hetzte Gelsenkirchener gegen Juden auf
Aufgehetzt von der gleichgeschalteten Presse, die das Attentat des jüdischen Flüchtlings Herschel Grynspan auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris als „Verschwörung des Weltjudentums“ gegen NS-Deutschland darstellte, steckten Angehörige von SA und SS die Synagogen an der Gildenstraße (heute Georgstraße) in Gelsenkirchen und an der Maelostraße in Buer in Brand.
Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger in Gelsenkirchen und Buer wurden demoliert bzw. zerstört, Juden zusammengeschlagen und misshandelt. Zahlreiche Männer wurden verhaftet und unter dem Gejohle der Menge „in Schutzhaft“ genommen, etliche am nächsten Morgen ins KZ Dachau abtransportiert, wo einige ums Leben kamen.
Feuerwehr ließ die Synagogen einfach abbrennen
„Die Feuerwehr war zwar vor Ort, löschte aber nicht die Brände der Synagogen, sondern war nur darauf bedacht, das Übergreifen auf andere Gebäude zu verhindern. Am Ende brannten die Gebäude völlig ab“, berichtet Historiker Schmidt. Er betont, dass die gewaltsamen Übergriffe eben nicht nur „von oben“ organisiert waren. „Es waren auch normale Bürger, Nachbarn oder Mitschüler, die Schaufenster jüdischer Geschäfte einschlugen und sie plünderten, Wohnungen demolierten, Menschen zusammenschlugen und die Opfer zwangen, die Glasscherben mit bloßen Händen aufzusammeln.“
Die Hochstraße etwa, sie bildete am nächsten Morgen einen „Teppich von Glassplittern“; mitten auf der Haupteinkaufsstraße baumelte eine Strohpuppe mit dem Schild „Juda verrecke“. Vor dem Geschäft Hosen-Hirsch lagen Kleidungsstücke auf der Straße, Schaufensterpuppen waren hoch auf Verkehrsschilder gesteckt. Und vor dem Möbelhaus Rosenbaum an der Ecke Westerholter/De-la-Chevalleriestraße, stapelten sich zertrümmerte Küchenschränke, Tische, Stühle, Sofas.
Mob machte auch vor verdienten Persönlichkeiten wie Dr. Eichengrün nicht Halt
Auch vor bekannteren, verdienten Persönlichkeiten machte der Mob nicht Halt: Opfer der Pogrome wurde auch der angesehene Zahnarzt und engagierte Fußballfunktionär Dr. Paul Eichengrün, der seine Praxis in seinem Wohnhaus an der heutigen Gildenstraße/Ecke Sparkassenstraße betrieb - direkt gegenüber der Synagoge. Der einstige zweite Vorsitzende des FC Schalke 04 (bis 1932) musste erleben, wie Schlägertrupps sein Wohnhaus verwüsteten und seinen Vater verhafteten. Nur gegen eine hohe Kaution konnte dieser freigekauft werden.
Hatten sich viele Juden zuvor nicht durchringen können, Deutschland zu verlassen - der 9. November bewirkte bei etlichen ein Umdenken. Familie Eichengrün etwa schickte ihre Kinder zu Pflegefamilien nach Großbritannien; den Eltern selbst gelang die Ausreise erst kurz vor Kriegsbeginn im Sommer 1939.
Nach jener Novembernacht nahmen sich verzweifelte Juden das Leben
„Nach den Pogromen von November 1938 kam es zu einer Selbstmordwelle unter jüdischen Menschen in Deutschland mit bis zu 500 Opfern. Zu denjenigen, die sich aus Verzweiflung selbst töteten, gehörte auch die Mutter von Erst Alexander, einem früheren Jugendspieler des FC Schalke 04“, berichtet Schmidt. Alexander selbst floh mit seinen Geschwistern wenige Wochen später in die Niederlande. Er starb 1942 in Auschwitz.
Das jüdische Gemeindeleben in Gelsenkirchen endete mit der Zerstörung der zwei Synagogen am 9. Januar 1938. Erst nach Kriegsende 1945 wagten Heimkehrer sowie in der NS-Zeit ins Ruhrgebiet verschleppte Juden einen Neuanfang. Die unsagbare Angst aber um ihr Leben und das ihrer Angehörigen, die die jüdischen Menschen in jener Novembernacht verspürten, die vergaßen sie nie.
- Dieser Text wurde erstmals im November 2020 veröffentlicht.