Gelsenkirchen/Berlin. Empörung und Schlammschlacht in der Politik: Nicht nur Jusos und Junge Union streiten über Zäsur im Deutschen Bundestag bei Migrationsdebatte.

Die einen sagen, die Brandmauer zur AfD sei gefallen. Die anderen bestreiten das vehement. Über eins kann es nach der Abstimmung über die Verschärfung der Migrationspolitik im Bundestag aber keinen Zweifel geben: Dass die Union ihren Fünf-Punkte-Plan mithilfe der AfD durchgesetzt hat, wird nicht nur die verbleibenden vier Wochen im Bundestags-Wahlkampf bestimmen. Es wird auch für die Zeit danach Auswirkungen haben, deren Ausmaß noch nicht abzuschätzen ist. Der Spielraum für verschiedene Koalitionen wird immer kleiner, der Ton in der Politik immer schärfer – auch in Gelsenkirchen.

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So gehen etwa die Jusos in Gelsenkirchen im Netz die CDU hart an, indem sie infrage stellen, ob der Gelsenkirchener Bundestagskandidat und Parteichef der hiesigen CDU, Sascha Kurth, überhaupt ein Demokrat sei. Die Nachwuchsorganisation der Gelsenkirchener SPD fordert Kurth und die CDU auf, sich öffentlich von ihrer Bundespartei zu distanzieren. Schließlich gelte: „Wer mit Faschisten stimmt, verlässt den demokratischen Konsens und macht sich zum Steigbügelhalter der extremen Rechten. Wer sich nicht klar gegen diesen Tabubruch positioniert, akzeptiert ihn stillschweigend.“ Die Brandmauer sei nicht nur gefallen – sie wurde, nach Meinung der Jusos, eingerissen.

Die Junge Union spricht daraufhin dem SPD-Nachwuchs ihrerseits jedes „Demokratieverständnis“ ab und schreibt: „Da weiß man, wo diese Art von linken „Politikern“, die wir tagtäglich in Gelsenkirchen erleben müssen, heranwächst. Die Brandmauer steht. Keine Zusammenarbeit mit der AfD. Punkt. Aus. Ende.“

Sascha Kurth (CDU).
Sascha Kurth (CDU). © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Der Angesprochene selbst erinnert zunächst an die Anschläge der letzten Zeit und behauptet, Olaf Scholz habe in der Migrationskrise nur versprochen und nichts gehalten. „Das hat auch die politischen Ränder weiter gestärkt. Die politische Mitte muss jetzt handeln – auch wenn SPD und Grüne nicht dazu fähig sind, CDU/CSU und auch FDP sind es. Wenn wir all das, was richtig ist, was aber die Stimmen der Falschen erhalten könnte, nicht mehr tun, ist unsere Demokratie am Ende. Deshalb tun wir das, was wir schon im letzten Jahr für richtig erachtet haben“, so Sascha Kurth, der von einem „normalen parlamentarischen Vorgang“ spricht.

Schließlich sei es nicht die Schuld der Union, dass die amtierende Regierung keine Mehrheit mehr hat. „Dass die größte Oppositionspartei nur Anträge einbringen dürfte, die der Regierung genehm sind, spricht für ein fatales Demokratieverständnis bei SPD und Grünen“, kontert Kurth die Vorwürfe gegen seine Partei.

Zugleich mahnt Kurth zu etwas mehr Ruhe und Besonnenheit im Umgang miteinander. „Richtig wäre es gewesen, über die unterschiedlichen Vorschläge zum Umgang und den Lehren aus zuletzt Aschaffenburg zu streiten. Leider fehlt allen anderen außer der Union dazu, entweder Kraft oder Wille, hier wirklich was zu ändern und Vorschläge einzubringen.“

„Friedrich Merz hat bewusst die Mehrheit mit der rechtsextremen AfD gesucht“

Von einer Zäsur spricht hingegen die Gelsenkirchener Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic. „Der gestrige Tag war ein historischer Einschnitt in der bundesrepublikanischen Parlamentsgeschichte. Erstmals hat die CDU/CSU getrieben von Friedrich Merz bewusst die Mehrheit mit der rechtsextremen AfD gesucht. Für das Zustandekommen dieser Mehrheit ist kein anderer verantwortlich als Friedrich Merz selbst. Keiner hat ihn gezwungen, diesen Antrag zur Abstimmung zu stellen. Er hat sowohl seiner Glaubwürdigkeit als auch der seiner Partei großen Schaden zugefügt“, so die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag.

Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen).
Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen). © dpa | Bernd von Jutrczenka

Mihalic erinnert daran, dass Merz noch im November versprochen hatte, keine Initiative einzubringen, die nur mit der AfD eine Mehrheit hätte. „Dieses Versprechen hat er gebrochen, wie kann man Merz jetzt noch glauben? Es besteht nun die Gefahr, dass die Union landauf, landab mit den Rechtsextremen Kooperationen und Bündnisse aller Art eingeht. Ich erwarte von der Gelsenkirchener Union, dass sie sich klar distanziert. Sie hat sich nach der Wahl des kurzzeitigen thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich in 2020 eindeutig positioniert und das erwarte ich auch jetzt, gerade mit Blick auf die noch ausstehende Abstimmung zum Zustrombegrenzungs-Gesetz. Die johlenden Jubelrufe der AfD von Mittwoch sollten der Union eine Mahnung sein.“

Neben der Art und Weise übt die Innenpolitikerin und frühere Polizistin auch Kritik an den inhaltlichen Forderungen der Union, die eine klare Abkehr vom demokratischen Rechtsstaat seien. „Der in den Unions-Initiativen enthaltene EU-Rechtsbruch gefährdet die Europäischen Union ganz grundsätzlich. Die vorgesehenen Grenzkontrollen bringen die Bundespolizei über ihr Limit.“ 3800 Kilometer Grenze abzusichern, das würde bedeuten, dass man mindestens 10.000 zusätzliche Bundespolizisten bräuchte, so Mihalic.

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Bis das Personal aufgebaut sei, würden Jahre vergehen und in der Zwischenzeit würde das Personal aus den Städten „so wie bei uns am Gelsenkirchener Bahnhof“ abgezogen werden, sodass man in puncto Sicherheit nichts gewonnen hätte, glaubt die Innenpolitikerin. Mihalic betont außerdem, dass keine andere Bundesregierung seit 2015 mehr getan habe, um der Migration zu begegnen, als die aktuelle. Ähnlich hatte sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung am Mittwoch geäußert, als er sagte, dass die Attentate der jüngsten Vergangenheit schon mit geltenden Gesetzen hätten verhindert werden können, es aber ein Vollzugsdefizit im Zusammenhang mit illegalen oder straffälligen Migranten gebe. Allerdings seien die Abschiebungen von abgelehnten Asylsuchenden und der Schutz vor psychisch kranken Straftätern Sache der Bundesländer. „Ich erwarte deshalb, dass die Gesetze überall konsequent angewandt werden.“ Nötig seien etwa mehr Abschiebehaftplätze in den Ländern. Und: Abschiebungen müssten auch durchgesetzt werden.

Marco Buschmann: „Dieses Feld können wir nicht den Anti-Demokraten von der AfD überlassen“.

FDP-Politiker Marco Buschmann, der bis zum Zusammenbruch der Ampelkoalition Bundesjustizminister war und inzwischen Generalsekretär seiner Partei ist, erinnert gegenüber der WAZ indes, dass „Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg – eine Reihe blutiger Anschläge“ Anlass für die Bundestagsdebatte waren. Und weiter: „Die Menschen wollen Antworten darauf, was zu tun ist, um solche Anschläge zu vermeiden. Dazu gehört die Bekämpfung irregulärer Migration, weil sie nicht nur eine Belastung für Sozialstaat, Schulen und Kommunen ist, sondern auch zunehmend unsere innere Sicherheit bedroht. Dieses Feld können wir nicht den Anti-Demokraten von der AfD überlassen. Wir haben mit der AfD nichts zu schaffen. Wir wählen deren Kandidaten nicht, wir stimmen deren Anträgen nicht zu, wir werden niemals mit dieser rechtsradikalen Partei zusammenarbeiten.“

Bundesjustizminister Buschmann
Marco Buschmann (FDP). © DPA Images | Michael Kappeler

Vielmehr sei es so, dass die AfD sich „zynisch“ verhalte, weil sie einem Antrag zustimme, in dem sie selbst zu einer Gefahr für die Demokratie erklärt wird – nur, damit Demokraten ihr das Themenfeld Migration überlassen. „Dieses destruktive Spiel darf ihr nicht gelingen. Probleme müssen von Demokraten gelöst werden. Wir Freie Demokraten wollen die Migrationsfrage lösen. Gut wäre, wenn SPD und Grüne kooperieren würden. Wenn Demokraten die Probleme der Menschen nicht lösen, dann wenden sich immer mehr Menschen den politischen Rändern zu. Das darf nicht sein“, so Buschmann.

Noch im November hatte Buschmannn in einer ausführlichen persönlichen Erklärung ein düsteres Bild der Gesellschaft gezeichnet, in der „uns eine Zeit der Wölfe droht, in der zunehmend wieder das Hobbessche Wort vom ‚homo homini lupus‘ gilt“ („der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, Anm. d. Redaktion) droht. Hintergrund war für Buschmann die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die Verrohung der Debattenkultur, hier, aber auch etwa in den USA. 

Markus Töns: „Friedrich Merz hat sein wahres Gesicht gezeigt. Auch Marco Buschmann hat kein Rückgrat gezeigt.“

Markus Töns (SPD).
Markus Töns (SPD). © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Für Markus Töns, Gelsenkirchens direkt gewählten Bundestagsabgeordneten aus den Reihen der SPD, hingegen, hat Friedrich Merz „sein wahres Gesicht gezeigt“. Denn dieses „Anbiedern an die AfD und ihr menschenverachtendes Verhalten ist nicht nur undemokratisch, sondern auch unchristlich“, so Töns. Merz habe machtbesessen in Kauf genommen, dass die AfD das erste Mal die Mehrheit für ein Gesetz ermöglicht und die Union damit zum „Steigbügelhalter“ gemacht. So streitbar sie auch waren, unter Merz‘ Vorgängern hätte es das nicht gegeben.

Der Sozialdemokrat bezichtigt Merz darüber hinaus der Lüge, wenn dieser sage, während der laufenden Legislaturperiode sei es unmöglich gewesen, Lösungen in der Migrationspolitik mit den Regierungsparteien zu finden. „Es war stets die Union, die nicht zu Kompromissen bereit war. Auf europäischer Ebene haben wir das gemeinsame Asylsystem reformiert und für Deutschland ein sinnvolles Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen“, so Töns.

Was ihn aber mindestens genau so sehr erschüttere, sei, dass die FDP ebenfalls geschlossen mitgestimmt und damit eine Mehrheit ermöglicht hat. „Offensichtlich hat die FDP nichts aus der Causa Kemmerich in Thüringen gelernt und die Solidaritätsbekundungen der letzten Monate waren pure Heuchelei. Auch Marco Buschmann hat kein Rückgrat gezeigt und den Kurs der FDP mitgetragen. Es macht mich fassungslos, dass ein ehemaliger Bundesjustizminister, der dazu noch aus einer so multikulturellen Region wie dem Ruhrgebiet stammt, mutwillig das Grundrecht auf Asyl aushebeln möchte und einer Partei, die Hass und Hetze schürt, den Hof macht“, so Töns, der fragt: „Wo sind die aufrechten Demokratinnen und Demokraten in Union und FDP geblieben?“

Die SPD hingegen werde sich weiterhin geschlossen gegen den Rechtsruck engagieren. „Wir stehen für die Brandmauer ein“, so Töns.