Gelsenkirchen/Essen/Bochum. Beim Einsatz gegen Menschenschmuggler nimmt die Polizei 13 Menschen fest – und findet 17 Schlauchboote. War Essen die Drehscheibe?

Bei der erneuten Großrazzia gegen ein international agierendes Schleusernetzwerk mit irakisch-kurdischem Hintergrund sind am frühen Mittwoch allein in Deutschland acht und insgesamt 13 Verdächtige verhaftet worden. Das teilte Europol am Donnerstagabend mit. Zuvor hatte die deutsche Bundespolizei diese Zahlen noch etwas niedriger angesetzt. Die Ermittler fanden nach monatelanger Vorarbeit unter anderem 21 Schlauchboote, 24 Außenbordmotoren, 101 Pumpen und 76 Schwimmwesten für die Überfahrt von Flüchtlingen von Frankreich nach Großbritannien. Unter anderem wurden sie in Gelsenkirchen, Bochum und Essen fündig.

15 Wohnhäuser und zehn Lagerhallen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg durchsuchten die mehr als 500 Beamten der Bundespolizei, unter ihnen auch Spezialkräfte. Sie wurden unterstützt von Kollegen aus Frankreich, Großbritannien und dem Bundeskriminalamt. Die deutschen Behörden leisteten damit einmal mehr Amtshilfe für die französische Polizei, die allein in diesem Jahr schon mehrfach erfolgreiche Schläge gegen Menschenschmuggler geführt hat. Nach einer Großrazzia im Februar, bei der ebenfalls vor allem in NRW Boote und Motoren gefunden worden waren, hatte ein französisches Gericht erst vor wenigen Wochen 18 Angeklagte zu teils hohen Haftstrafen verurteilt.

Großeinsatz in Deutschland gegen eine Schleuserbande: Auch hier im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen schlugen Einsatzkräfte zu.
Großeinsatz in Deutschland gegen eine Schleuserbande: Auch hier im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen schlugen Einsatzkräfte zu. © WAZ | Nikos Kimerlis

Polizeipräsident: „International gegen Gewissenlose“

Die Haftbefehle waren diesmal von einem Gericht in Lille im Norden des Landes ausgestellt worden und wurden unter Federführung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf ausgeführt. Beteiligt an den Zugriffen am Mittwoch waren unter Koordination der europäischen Behörden Europol und Eurojust zudem die Generalstaatsanwaltschaften Hamm, Köln und Karlsruhe. „International gegen Gewissenlose“, lobte der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, am Donnerstag. „Nur so geht es.“

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Nach Informationen seiner Behörde stellten die Einsatzkräfte neben dem umfangreichen Beweismaterial auch Bargeld in Höhe von etwa 70.000 Euro, Gold und 31 Mobiltelefone sicher. Zuvor war monatelang gegen die nun Festgenommenen mit irakischer, syrischer, libanesischer und deutscher Staatsangehörigkeit ermittelt worden. Die Beschuldigten sollen sogenannte „nautische Kits“ aus der Türkei beschafft haben – also Boote und das nötige Zubehör –, um Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Ostafrika über den Ärmelkanal zu schleusen. Das Material sollen sie an andere Kriminelle weitergegeben haben, die den Transport aus Deutschland an die französische Küste organisierten. Die Drahtzieher und ihre Gefolgsleute hätten Bauteile und Boote in Deutschland illegal beschafft, es gehe deshalb auch um Delikte wie Raub und Diebstahl. Aktenkundig wurden nach Angaben aus Sicherheitskreisen auch Fälle, in denen Migranten mit Waffen bedroht worden seien.

Migranten sollen mit Waffen bedroht worden sein

Der Schmuggel von Migranten in aufblasbaren Booten ist laut Europol zuletzt zwar um etwa ein Drittel zurückgegangen. Trotzdem seien die kriminellen Netzwerke weiterhin aktiv und zunehmend gewalttätig. 2024 hätten bislang 34.000 Geflüchtete und 630 Boote britische Insel erreicht, deutlich mehr als im Jahr zuvor (28.000 in 580 Booten). Zugleich sei aber auch die Zahl der Toten gestiegen: auf mehr als 70; im Vorjahr waren es zwölf gewesen.

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Auch die Polizei in Essen ermittelt seit Oktober gegen eine syrisch-irakische Schleuserbande mit kurdischen Wurzeln. Vorausgegangen war eine Undercover-Recherche der britischen BBC, nach der das Ruhrgebiet eine Drehscheibe für skrupellosen Menschenschmuggel sein soll. Wie der Sender kurz zuvor berichtete, würden in Essen und Umgebung an etwa zehn Standorten Schlauchboote und weiteres Equipment für die lebensgefährliche Überfahrt vom französischen Calais über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelagert. Nach Angaben des Reports verlangen die Menschenschmuggler 15.000 Euro für ein „Komplettpaket“ – zahlbar sicherheitshalber über das sogenannte „Hawala“-Finanzsystem.

Dover, Großbritannien: Hier liegen kleine Boote an einem Lagerhaus im Hafen, mit den Migranten über den Ärmelkanal gekommen sind.
Dover, Großbritannien: Hier liegen kleine Boote an einem Lagerhaus im Hafen, mit den Migranten über den Ärmelkanal gekommen sind. © dpa | Gareth Fuller

Dafür gebe es Boot, Motor, Treibstoff, Pumpe sowie 60 Schwimmwesten. Bei Durchsuchungen unter anderem in Bergisch-Gladbach hatten Ermittler in diesem Jahr bereits Außenbord-Motoren entdeckt. Allerdings sind die Schlauchboote nur für zehn Personen konzipiert. Erst im Oktober waren bei einer solchen lebensgefährlichen Überfahrt zwei Kleinkinder unter zwei Jahren ertrunken. Denn die Schlauchboote, auch „Dinghi“ genannt, kentern bei der gefährlichen Überfahrt regelmäßig, auch weil sie überladen sind.

Spezialeinheit bei Flüchtlingsunterkunft in Essen im Einsatz

Spezialeinsatzkräfte hatten am frühen Mittwochmorgen deshalb auch mehrere Mehrfamilienhäuser, Lagerhallen und eine Flüchtlingsunterkunft gestürmt. Letztere befindet sich nach Informationen dieser Redaktion in Altenessen-Süd. Im Übergangswohnheim an der Hülsenbruchstraße (ehemalige Boecker-Hauptverwaltung) haben die Fahnder nach einem Iraker gesucht, der seit dem vergangenen Jahr dort lebt und bislang nicht auffällig gewesen sein soll. Die Einsatzkräfte haben den 28-Jährigen aber nicht antreffen können. Was ihm genau zur Last gelegt wird, ist nicht klar.

An dieser Flüchtlingsunterkunft in Altenessen-Süd läuft der Einsatz.
An dieser Flüchtlingsunterkunft in Altenessen-Süd lief der Einsatz am Mittwochmorgen. © P. Schymiczek

Die Polizeieinheiten hatten nach Informationen dieser Redaktion auch ein unscheinbares Mehrfamilienhaus im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen im Visier. Der Zugriff erfolgte demnach am frühen Morgen in einem Gebäude an der Hildegardstraße. Bisher ist der Redaktion noch nicht bekannt, ob dort Personen festgenommen oder Beweise sichergestellt wurden. 

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NRW-Innenminister Herbert Reul hatte am Mittwoch auf Nachfrage mitgeteilt: „Mit der Not von Menschen Geschäfte zu machen, ist nicht nur kriminell, sondern schäbig. Diese Leute haben fürs große Geld ganz bewusst Menschenleben gefährdet. Ich bin froh, dass damit jetzt Schluss ist.“ Der Bundespolizei sei zusammen mit internationaler Unterstützung „ein ganz wichtiger Schlag gegen eine Schleuser-Riege gelungen“, so Reul. „Daran sehen wir, auch in Flüchtlingsunterkünften können sich diese Täter nicht verstecken.“ mit j.m., sat, woki, gowe, kim