Calais. An Frankreichs Küste warten Hunderte Flüchtlinge auf ihre Chance, per Boot nach England zu gelangen. Schmuggler nutzen das Elend aus.
Am Kreisverkehr vor der Clinique les Oyats herrscht an diesem warmen, sonnigen Frühlingstag fast so etwas wie eine unbeschwerte Festivalatmosphäre. Dutzende junge Männer spielen Fußball, etliche andere sitzen wie an einem modernen Lagerfeuer vor den Brettern mit den Mehrfachsteckern, an denen sie ihre Telefone aufladen.
Es dröhnt Reggae-Musik aus kleinen mobilen Boxen. An einem Klapptisch spielen zwei der Männer mit einer Helferin Jenga, das Spiel, bei dem Klötzchen aus einem Holzturm gezogen werden müssen. Bei wem der Turm zusammenbricht, der verliert. Sie lachen, was in ihrem Alltag nicht oft vorkommt, weil es sonst ihre Träume sind, die hier in Calais immer wieder in sich zusammenstürzen.
Camp in Calais wurde vor Jahren abgerissen, doch die Flüchtlinge blieben
Die nordfranzösische Hafenstadt am Ärmelkanal ist seit mehr als zwei Jahrzehnten einer der europäischen Migrationsbrennpunkte. England ist von hier aus gerade einmal etwas mehr als 30 Kilometer entfernt. Die Insel ist das Sehnsuchtsziel der Flüchtlinge, die sich bis Calais durchgeschlagen haben.
Vor wenigen Jahren machte der „Dschungel von Calais“ Schlagzeilen, ein Camp auf einer früheren Müllhalde, in dem fast 10.000 Menschen unter Planen, in Zelten und in einfachen Hütten wohnten, unterstützt von Hilfsorganisationen, die Wasserleitungen legten, Essen verteilten. Im Oktober 2016 riss die französische Polizei den Dschungel ab. Die Flüchtlinge aber sind noch immer da. Im Dschungel hatte das Elend eine Struktur, einen festen Ort. Jetzt ist es an vielen Stellen der Stadt zu finden.
Das Leben der Flüchtlinge in Calais
Der französische Staat hilft nur mit dem Überlebensnotwendigsten
800, vielleicht 1000 Flüchtlinge sollen sich aktuell in Calais aufhalten. Es hat sie aus Afghanistan, Eritrea, dem Iran, dem Irak, dem Sudan und aus Syrien hierherverschlagen. Asyl in Frankreich beantragen können sie nicht, die meisten sind bereits in anderen europäischen Staaten wie Italien oder Griechenland registriert worden. Sie sind zum Strandgut der Globalisierung geworden, schlafen unter Brücken, in der Heidelandschaft, an Bahnstrecken.
Der französische Staat hilft nur mit dem Überlebensnotwendigsten, nationale und internationale Hilfsorganisationen unterstützen die Flüchtlinge über Ausgabeaktionen. Sie suchen sie auf, verteilen Zelte, Schlafsäcke, Kleidung, Feuerholz.
Care4Calais, eine dieser Organisationen, unterhält in Sangatte, einer Kleinstadt nahe Calais, ein großes Lagerhaus, gefüllt mit gespendeten Hilfsgütern. Matt Cowling (30) ist einer der beiden hauptamtlichen Koordinatoren. Mehr als ein Dutzend Freiwillige sind aktuell da – junge Menschen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Portugal.
Es sind derzeit weniger als üblich. „Wegen Covid kommen im Moment nicht mehr so viele Freiwillige“, sagt Matt. Noch dazu ist seine Organisation eine britische. Wegen des Brexits ist es sehr viel komplizierter geworden, Hilfsgüter nach Frankreich zu bringen. „Es ist ein Desaster“, seufzt Matt.
In Deutschland haben Payam und Shayan die vergangenen Jahre verbracht. Die beiden haben mit ihren Freunden hinter dem Krankenhaus von Calais unter einer Baumreihe ihre Zelte aufgeschlagen. Als die Nacht hereinbricht, leuchtet ihr Lagerfeuer in der Dunkelheit, in einer Konservendose brodelt das Wasser für den Tee.
Payam ist 30, er ist jetzt drei Monate hier, vorher hat er fast drei Jahre in Dorsten gelebt. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, er ist noch immer aufgebracht: „Ich bin Christ, ich kann nicht in den Iran zurück.“ Shayan war sogar acht Jahre in Deutschland, auch ihm ist der Weg in die alte Heimat versperrt. Großbritannien ist ihre einzige Option.
Wie die Situation in Calais sei? Payam schnaubt verächtlich, zeigt dorthin, wo jenseits des Feuerscheins die Zelte als Konturen zu sehen sind: „Ist das ein Leben?“ In den vergangenen Wochen hat es immer wieder in Strömen geregnet, es war bitterkalt. Im Iran, sagt er, würde er sofort hingerichtet. „In Europa sterben wir jeden Tag.“
Die Polizei zerstört immer wieder die Zelte
Am nächsten Morgen, es ist ein Sonntag, schieben die ersten Kunden ihre prall gefüllten Einkaufswagen über den Parkplatz des Auchan-Supermarktes im Westen von Calais. Wenige Meter schleppen sudanesische Flüchtlinge ihre Habseligkeiten in die Heidelandschaft. Sie haben die Nacht in 40, 50 Zelten vor dem Conforama-Möbelhaus verbracht, das schon seit einiger Zeit geschlossen ist.
Jetzt müssen sie los, es ist einer dieser Tage, an denen normalerweise die Polizei kommt. Meistens ist es die CRS, die kasernierte Polizei. Die Truppe ist gefürchtet, weil sie immer wieder die Zelte der Flüchtlinge zerstört. Viele berichten von Pfeffersprayeinsätzen und Verhaftungen, manche von Schlägen.
„Die Polizei hat die Anweisung, hart gegen die Flüchtlinge vorzugehen“, sagt Jean-Pierre (70), ein Einwohner von Calais, der an diesem Morgen am Parc Richelieu entlangschlendert. Er selbst hat keine Probleme mit den Flüchtlingen, sagt er. In letzter Zeit tränken einige zu viel Alkohol, aber der Dschungel sei viel schlimmer gewesen. Ein Pärchen sieht die Lage kritischer. „Manche junge Mädchen fühlen sich belästigt, seit die Flüchtlinge jetzt mitten in der Stadt sind“, sagt der Mann.
Jean-Pierre war früher am Hafen von Calais beschäftigt, dort, von wo aus die riesigen Fähren nach England übersetzen. Das Hafengelände ist umgeben von gewaltigen, bis zu drei Meter hohen Zäunen, die mit Nato-Stacheldraht bewehrt sind. An manchen Stellen sind zwei Zäune hintereinandergestaffelt. Hier ist Europa bereits eine Festung. Lesen Sie dazu: Vorwürfe gegen Frontex – so schlecht ist der EU-Grenzschutz
Bis zu 3000 Euro für eine Überfahrt mit dem Schlauchboot
Auch eine halbe Stunde Autofahrt weiter östlich in Dünkirchen wollen sie sich von dieser Festung nicht aufhalten lassen. In einem dortigen Waldstück leben 200, vielleicht 300 Flüchtlinge in Zelten, unter Planen. Sie kommen aus dem Iran, Irak und Syrien, und unter ihnen sind auch Familien.
Von Dünkirchen aus versuchen viele per Schlauchboot nach England zu gelangen. Die meisten der rund 8500, die es im vorigen Jahr auf die Insel geschafft haben, sind mit dem Boot gekommen. Für die Schmuggler ist es ein einträgliches Geschäft, sie rufen Preise von 1000 bis 3000 Euro pro Person und Überfahrt auf. Für sie selbst ist es eine lebensgefährliche Fahrt. Über 300 sollen in den vergangenen 20 Jahren dabei ums Leben gekommen sein. Hintergrund: Rekord: 86 Migranten bei Ärmelkanal-Überquerung festgenommen
In den nächsten Wochen könnten die verzweifelten Versuche, Großbritannien zu erreichen, stark zunehmen. Die britische Regierung plant ein schärferes Asylrecht. Wer illegal ins Land kommt, soll das Recht auf Asyl verwirkt haben. Schon jetzt bemerken Flüchtlingshelfer wie Matt Gowling, dass es wieder voller wird in Calais. „Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge an.“
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