Essen. Essen, Bochum und Gelsenkirchen verlieren an Attraktivität für die Menschenschmuggler. Doch der Kampf ist noch lange nicht gewonnen.

Warum sich ausgerechnet Essen und weitere Ruhrgebietsstädte in besonderer Weise für jene Schleuser eignen, die ihr verbrecherisches Geschäft mit Flüchtlingen machen, wissen wir seit einer eindrucksvollen Reportage des britischen Senders BBC ganz genau: Es gehe um „Logistik“ und „Sicherheit“. Rund fünf Autostunden von Calais entfernt – das sei „nah genug, um bei einer guten Wetterprognose schnell dort hin zu kommen, und nicht so nahe bei den bewachten Stränden Nordfrankreichs“, hieß es. Wer dachte schon an Essen, Bochum oder Gelsenkirchen, wenn es um die Fragen ging, wo die ganzen Schlauchboote für die halsbrecherischen Fahrten über den Ärmelkanal gelagert sind und von wo aus der ganze Wahnsinn gesteuert wird?

Immerhin ist es mit der „Sicherheit“ des Standorts jetzt vorbei. Auch wenn noch nicht klar ist, wie erfolgreich die Groß-Razzia gegen ein irakisches Schleusernetzwerk im Ruhrgebiet tatsächlich war: In den betroffenen Unterkünften wird das zynische Geschäft so nicht in aller Ruhe weitergeführt werden können. Noch wichtiger ist das Signal, das von der Internationalität des Polizeieinsatzes ausgeht. Es liegt in der Natur von Schleusernetzwerken, dass sie keine Landesgrenzen kennen. Daher können ihre Aktivitäten auch nur durch europäisch koordinierte Maßnahmen bekämpft werden. Und insofern ist die Groß-Razzia in ihrer Qualität und Dimension durchaus beeindruckend.

Professionell und skrupellos

Beeindruckend bleiben allerdings auch Professionalität und Skrupellosigkeit der Kriminellen. Die Schleusernetzwerke funktionieren wie Online-Reisebüros. Aus unscheinbaren Wohnungen heraus werden Werbevideos hergestellt, die potenziellen Flüchtlingen das Blaue vom Himmel versprechen; die „Mitarbeitersuche“ erfolgt über soziale Netzwerke wie Telegram; das gilt auch für logistische Absprachen aller Art. Einem Lagebericht des BKA zufolge ist die Anzahl der Schleusungsdelikte in Deutschland im vergangenen Jahr um 60 Prozent gestiegen.

Kein Wunder: Angeblich kassieren die Schleuser 2000 bis 2500 Euro pro Person für die gefährliche Überfahrt. Die „small boats“, kleinen Boote, wie sie in Großbritannien und Frankreich etwas verharmlosend genannt werden, stammen vielfach aus chinesischer Produktion und sind so unsicher, wie man sich das – auch angesichts der Strömungen im Ärmelkanal – nur vorstellen kann. Vor zwei Jahren pferchten die Schleuser im Schnitt 30 Menschen in so ein Boot. Inzwischen zählen die Behörden 46. Dass Menschen daher schon beim Beladen der Boote ersticken, dass immer wieder Frauen und Kinder ertrinken, ist diesen Händlern des Todes egal, wenn eine Überfahrt einen sechsstelligen Umsatz verspricht.

Auftrieb für Rechtspopulisten

Neun von zehn Tatverdächtigen stammen aus dem Ausland, sind nicht selten selbst Geflohene, zum Beispiel aus Syrien. Dieser Umstand sowie das ungelöste Problem mit der illegalen Migration insgesamt, die durch die Menschenschmuggler noch verstärkt wird, sind Gift für die politische Stabilität der Bundesrepublik. Denn nicht nur der Innenminister Nordrhein-Westfalens kann sich angesichts einer Groß-Razzia gegen Schleuser profilieren. Sie ist vor allem Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, die bald schon wieder ihre vermeintlich einfachen Lösungen auf Plakate drucken werden.

Aber einfache Lösungen gibt es nicht. Die jüngste Verschärfung der nationalen Grenzkontrollen etwa spielt Schleppern erst recht in die Karten, die Meister im Suchen von neuen Wegen sind, seien sie für die Flüchtlinge auch noch so gefährlich. Mehr Repression bedeutet leider automatisch auch immer mehr Tote. Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass Länder wie Großbritannien oder Deutschland für Flüchtlinge besonders attraktiv sind und so eine Art Sog auf sie ausüben. Das feuert die Debatte an, ob man den Menschenschmugglern nicht am besten dadurch das Geschäft verdirbt, indem man die Attraktivität der Zielländer senkt, etwa über eine geringere materielle Ausstattung der Flüchtlinge.

Zynismus verbietet sich

Es ist und bleibt eine Gratwanderung, hierbei nicht zynisch zu werden. Wer sich von Schleusern locken lässt, ist in erster Linie ein Opfer menschenverachtender Machenschaften. Das sollten wir bei aller berechtigten Aufregung nicht vergessen.