Gelsenkirchen. Seit 20 Jahren ist eine Gruppe von Gelsenkirchenern montags laut in der City. Warum sind diese Menschen so hartnäckig? Eine Annäherung.

Die angebliche Verweigerungshaltung von Bürgergeld-Empfängern ist seit Längerem wieder ein politisches Top-Thema in Deutschland. Und der Kampf gegen das Großkapital? Der ist sowieso nicht gewonnen. Auch deshalb trifft sich diese Gruppe von Kapitalismus-Kritikern seit 20 Jahren regelmäßig montags in der Gelsenkirchener Innenstadt, um gegen den Niedriglohnsektor, gegen Ausbeutung, gegen das System laut zu werden.

Das orange Banner, mit dem propagiert wird: „Montag ist Tag des Widerstands“ – man hat sich daran gewöhnt. Mal rufen die Passanten „Spinner“ zu, mal zeigen sie den Daumen hoch, oft werden die Protestler ignoriert. Immer mal wieder kommen auch Neulinge hinzu, aber doch ist es meist derselbe Kern aus etwa 50 Menschen, die sich auf in der Innenstadt um 17.30 bei Wind und Wetter einmal im Monat (früher sogar jede Woche) versammeln. Woher kommt sie, die Hartnäckigkeit dieser Truppe?

Das sagen die Gelsenkirchener Montagsdemonstranten zur MLPD-Zuschreibung

Um das zu ergründen, sind Esther Engel (55), Rolf Mehnert (66), Petra Müller (64) und Gerd Labatzki (70) zu Besuch in der WAZ-Redaktion. Aktiv sind drei von ihnen bei dem linken Wählerbündnis AUF, das enge Beziehungen zur linksextremen MLPD pflegt. Engel, Ehefrau des langjährigen Partei-Vorsitzenden Stefan Engel, ist selbst aktiv bei der vom Verfassungsschutz beobachteten Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, die laut NRW-Innenministerium eine „Diktatur des Proletariats“ anstrebt – und deren prominenteste Köpfe gerne als Erstes das Montagsdemo-Mikrofon in die Hand nehmen. Aber als Promo-Veranstaltung der MLPD wollen die vier die Montagsdemo nicht verstanden wissen, auch gegen Bezeichnungen wie „MLPD-nah“ zeigen sie eine gewisse allergische Reaktion.

Protest zum 20. Geburtstag der Montagsdemo. Vorne mit dabei sind Politiker wie die jugendpolitische Sprecherin der MLPD, Lisa Gärtner (li.), der langjährige MLPD-Vorsitzende Stefan Engel (Mitte) oder der AUF-Stadtverordnete Jan Specht.
Protest zum 20. Geburtstag der Montagsdemo. Vorne mit dabei sind Politiker wie die jugendpolitische Sprecherin der MLPD, Lisa Gärtner (li.), der langjährige MLPD-Vorsitzende Stefan Engel (Mitte) oder der AUF-Stadtverordnete Jan Specht. © FUNKE Foto Services | Daniel Attia

„Sobald die MLPD mit dabei ist, heißt es gleich nur noch MLPD-nah“, ärgert sich Gewerkschafterin und Erzieherin Petra Müller. „Wir sind überparteilich, bei uns haben sogar schon Kollegen von der SPD und der CDU gesprochen“, behauptet die Verdi-Frau. Zudem gebe es viele unorganisierte Teilnehmer. Und: „Die Montagsdemo ist finanziell nicht von der MLPD abhängig“, ergänzt Engel, die sich als Kassiererin bei der Montagsdemo engagiert.

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Klar gebe es bei der Demo diejenigen, die sich tief mit politischen Systemen und Ideologien auseinandergesetzt hätten – aber eben auch diejenigen, die sich lediglich darüber ärgern, „dass in Deutschland so viele Menschen betteln oder Flaschen sammeln müssen, um über die Runden zu kommen“, wie Rolf Mehnert seine Motivation erklärt. Er sei damals eingestiegen, als die Wellpappe GmbH im Jahr 2016 über Nacht Insolvenz angemeldet hatte und für fast 100 Beschäftigte in Gelsenkirchen ein harter Arbeitskampf begann. Angetrieben von dem Glauben, dass es bei der überraschenden Insolvenz nicht mit richtigen Dingen zuging, wurde Mehnert schließlich zum Stammgast am orangen Banner. Hier habe er gelernt, „wie man richtig kämpfen muss“, sagt er.

Welches Etikett passt also zu dieser Veranstaltung? „Sozial-kämpferisch, würde ich sagen“, schlägt Engel vor. „Was uns eint, das ist wohl der Kampf um eine gerechtere Zukunft“, sagt Petra Müller. Auf „kapitalismuskritisch“ können sich schließlich alle vier einigen.

Ohne die Gelsenkirchener Montagsdemo würde Teilnehmerin verzweifeln

Nur wie schon erwähnt: Es ist nicht unbedingt so, als hätte es in dem Kampf gegen den Kapitalismus in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte gegeben. Und beobachten müssen die Montagsdemonstranten auch, wie sich das Bürgergeld schrittweise wieder Richtung Hartz IV entwickelt - obwohl die erste Montagsdemo in Gelsenkirchen ja wegen der Hartz-Reformen überhaupt erst stattfand. Andere Themen sind umstrittene Abschiebungen oder Friedenspolitik, also ebenfalls politische Felder, auf denen es aktuell nicht gerade in die „linke Richtung“ geht. Wieso nur resigniert man da nicht?

Montagsdemonstrantin Esther Engel (MLPD): „Will in den Spiegel schauen können“
Montagsdemonstrantin Esther Engel (MLPD): „Will in den Spiegel schauen können“ © WAZ | Gordon Wüllner-Adomako

„Hier kann man verarbeiten, was Schreckliches auf der Welt abläuft“, sagt Petra Müller zu ihrer unerschöpflichen Motivation. „Wenn ich immer nur alleine vor dem TV sitzen würde und das Elend auf der Welt sehen würde, würde ich verzweifeln.“ Die Teilnahme an der Montagsdemo bewahre sie davor.

Besonders schwer zu ertragen sei das gegenwärtige Leid der Kinder im Gaza-Streifen. Der Nahost-Konflikt ist seit längerem eines der Top-Themen auf der Montagsdemo. Direkt nach der historischen Eskalation durch das Massaker der Hamas im Oktober 2023 sei die stets anwesende Polizei besonders hellhörig gewesen, wie die Kritik an Israel verpackt wurde. „Stolz“ ist Engel darauf, dass die „faschistische Hamas“ genauso wie „faschistische Regierungsvertreter“ in Israel benannt würden, wenn Solidarität mit den Palästinensern gezeigt werde. Und wenn doch jemand am Mikrofon Richtung Antisemitismus abdriftet? „Da schreiten wir auch ein“, sagt Müller, die sich als Ordnerin engagiert und darauf pocht: Viele Positionen würden auch konstruktiv gemeinsam am offenen Mikrofon entwickelt.

Teilnahme an der Montagsdemo in Gelsenkirchen - „es bringt mich persönlich voran“

Hat das Durchhaltevermögen am Ende also vielleicht auch einfach damit zu tun, dass man sich aufgehoben fühlt, verstanden fühlt in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten? „Eine Motivation ist es, dass es einen persönlich unglaublich voranbringt“, bestätigt Esther Engel diese Vermutung. „Schwer gemobbt“ worden sei sie einst in ihrer Rolle als Betriebsrätin, „aber ich wusste, bei der Montagsdemo, da finde ich Freude“, sagt sie.

Aber da ist noch etwas: „Ich möchte abends in den Spiegel schauen können“, sagt Engel. „Ich möchte sagen, ich habe mein Bestes gegeben; ich bin meiner Sache treu geblieben und nicht opportunistisch gewesen.“

Petra Müller (AUF): „Würde sonst verzweifeln“
Petra Müller (AUF): „Würde sonst verzweifeln“ © WAZ | Gordon Wüllner-Adomako

Und Erfolge gab es ja aus Sicht der vier Anwesenden dann doch. Zum Beispiel habe man dem Gelsenkirchener Bergmann Christian Link den Rücken gestärkt, als dieser öffentlich vor Gefahren von Giftmüll unter Tage gewarnt hatte. Link erhielt damals ein „RAG-weites Anfahrverbot“, stritt vor dem Arbeitsgericht mit seinem Arbeitgeber – und konnte juristische Erfolge erzielen. Es sei eines dieser Themen gewesen, das man auch auf anderen der bundesweit stattfindenden Montagsdemos wahrgenommen hätte.

Treffen mit Delegierten aus allen Bundesländern gebe es auch. Und da wirke es, wenn man erzähle, dass man aus Gelsenkirchen kommt. Es sei nun mal die Stadt „des gescheiterten Strukturwandels“, die Stadt der Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und auch des AfD-Aufschwungs, zählen die vier auf – alles Themen, die besonders von den Montagsdemonstranten beackert werden. „Wenn du aus Gelsenkirchen kommst“, sagt Esther Engel, „dann sagen die Leute: Ihr habt ja schon so einige Kämpfe losgetreten.“