Essen. Schnellere Strafen, härtere Regeln: Das hatten sich zwei Praktiker fürs Bürgergeld gewünscht. Die Pläne finden sie dennoch missraten.

Zu bürokratisch, realitätsfern und begleitet von Kürzungen: Die Pläne für das neue Bürgergeld fallen komplett durch bei Essens Stadtdirektor Peter Renzel (CDU) und Jobcenter-Chef Dietmar Gutschmidt. Dabei hatten die beiden Anfang des Jahres schärfere Regeln gefordert. Nun haben sich Kanzler Scholz, Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner tatsächlich auf härtere Regeln beim Bürgergeld geeinigt als Teil ihrer „Wachstumsinitiative“. Sozialverbände und Gewerkschaften lehnen die Pläne ab, weil das Bürgergeld damit „härter als Hartz IV“ werde. Doch Renzels und Gutschmidts Kritik kommt aus einer anderen Richtung: Die Praktiker finden die Reform einfach schlecht durchdacht.

Mitwirkungspflicht

Bringt mehr Druck, mehr Menschen in Arbeit? Wenn Bürgergeldempfänger Termine platzen lassen, ohne Grund eine Arbeit verweigern oder schwarzarbeiten, dann soll ihnen das Jobcenter künftig die Leistungen bis zu 30 Prozent für drei Monate kürzen können. Bisher ist das schrittweise vorgesehen. Anfang des Jahres waren die schwachen Sanktionen noch der schärfste Kritikpunkt. Renzel und Gutschmidt hatten Alarm geschlagen, weil über die Hälfte der Kunden nicht mehr für das Jobcenter erreichbar waren und keine Termine mehr wahrnahmen. „Gerade bei Jüngeren war es erschreckend, 70 Prozent waren nicht erreichbar“, sagt Gutschmidt. Aber dann wurde das Bürgergeld bereits im März nachgeschärft. Wie im alten Hartz-IV-System können bei Totalverweigerern auch jetzt schon Totalsanktionen (für zwei Monate) verhängt werden.

Dietmar Gutschmidt, Leiter des Essener Jobcenters.
Dietmar Gutschmidt, Leiter des Essener Jobcenters. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Gutschmidt begrüßt auch die neuen Pläne. Allerdings sind mittlerweile wieder zwei Drittel der Essener Kunden termintreu. Bei den Jüngeren sind es unter fünfzig Prozent. Das ist etwa das Niveau, das auch vor Pandemie und Bürgergeld herrschte. Auch darum erwartet Gutschmidt von weiteren Verschärfungen nur noch „eine geringfügige Verbesserung der Termintreue“.

Wichtiger wäre wohl eine Präzisierung der Spielregeln im Detail: Denn nach einem Urteil des Bundessozialgerichts genügt schon ein Signal der Mitwirkung, damit das Geld wieder fließt: Ein Anruf beim Jobcenter – und alle Sanktionen sind aufgehoben. Daran ändert die Reform nichts. Im Gegenteil: Dadurch, dass wieder mehr Sanktionen möglich sind, steigt wieder der bürokratische Aufwand – im Extremfall mit einem Ping-Pong-Spiel aus Strafe und Rückabwicklung.

Schwarzarbeit

Auch Schwarzarbeit soll künftig als Pflichtverletzung bestraft werden – aber ist das wirklich neu? „Was nun angekündigt wird, leben wir längst“, sagt Essens Jobcenter-Chef Gutschmidt: Wenn das Hauptzollamt rechtssicher feststellt, dass ein Bürgergeldempfänger arbeitet, werden ihm auch heute schon die Leistungen gekürzt oder gar komplett gestrichen. Außerdem ist Schwarzarbeit eine Ordnungswidrigkeit oder Straftat. Hinzu kommt Sozialbetrug. Hier sind schon immer auch Geld- und Gefängnisstrafen möglich.

Das Problem ist nur: Schwarzarbeit nachzuweisen, ist sehr aufwändig. Die Zahl der Fälle, die Leistungskürzungen nach sich zogen, ist in Essen allenfalls zweistellig. Der Zoll soll nun zwar auch mehr Mittel bekommen (und der Datenaustausch soll besser werden). Doch ob damit die Ermittlungserfolge deutlich steigen werden? — Bislang „sind es Zufallsfunde“, sagt Renzel. „Oft beruhen sie auf Meldungen von Nachbarn.“ – „Aber es wäre ein Gewinn, wenn die Zollfahnder mehr aufdecken würden“, sagt Gutschmidt. „Dann könnten wir auch stärker kürzen.“

Schonvermögen

Im alten Hartz-IV-System wurde einmal geprüft, wie viel Vermögen tatsächlich da ist. Eine bestimmte Summe durfte man behalten. Dieses Schonvermögen berechnete sich nach Lebensjahren. Mit der Einführung des Bürgergeldes darf man deutlich mehr Erspartes behalten – zumindest ein Jahr lang. Das ist die sogenannte Karenzzeit. Gutschmidt: „Dadurch wurde eine doppelte komplette Prüfung nötig, am Anfang des Bezugs und nach einem Jahr noch einmal.“ Nun soll diese Karenzzeit auf sechs Monate reduziert werden. Die zweite Prüfung und damit der doppelt so hohe bürokratische Aufwand bleibt. „Wir würden uns freuen über die Wiedereinführung der alten Regelung.“

Peter Renzel, Stadtdirektor, und Verwaltungsvorstand Soziales, Arbeit und Gesundheit.
Peter Renzel, Stadtdirektor, und Verwaltungsvorstand Soziales, Arbeit und Gesundheit. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Pendelzeiten

Künftig sollen längere Arbeitswege von bis zu drei Stunden täglich zumutbar sein. Das sei „okay“, sagt Gutschmidt. „Durch unseren engen Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet hat das aber keinerlei operative Auswirkungen. Das mag in ländlichen Gebieten anders sein.“ Stadtdirektor Renzel ergänzt: „Wer eine Qualifikation hat, den nimmt der Arbeitsmarkt auch auf.“ Die schwer zu vermittelnden Kunden seien zum größten Teil eben nicht qualifiziert genug, auch nicht für eine Arbeit in Nachbarstädten. Und sie für „Helfertätigkeiten“ in den Umkreis zu vermitteln, sei realitätsfern.

Budgetkürzungen

Über allem steht die drohende Kürzung von Budgets. „Um Menschen in Arbeit zu bringen, braucht es Angebote“, sagt Dietmar Gutschmidt. „Und dafür brauchen die Jobcenter Budgets. Doch aus den 80 Millionen für Eingliederungshilfen, die Essen aktuell zur Verfügung stehen, könnten in den Haushaltsberatungen 54 Millionen werden.“ Damit rechnen Renzel und Gutschmidt bereits.

Immerhin ist die Lage in Essen nicht so schlimm wie in Bremen. Dort musste das Jobcenter bereits in diesem Jahr Zahlungsunfähigkeit anmelden und durch Bundesmittel „gerettet“ werden. In einem bemerkenswerten Appell warnt die Bundesagentur für Arbeit zusammen mit dem Deutschen Städtetag und dem Landkreistag davor, dass solche Verhältnisse um sich greifen könnten. Schon jetzt werden in einigen Jobcentern Mittel, die eigentlich für die Vermittlung von Kunden in Arbeit vorgesehen sind, umgeschichtet, um die Verwaltung zu bezahlen. Das ist in Essen nicht der Fall. Aber die angekündigten Kürzungen seien „ein starker Einbruch“, sagt Gutschmidt. „Das bedeutet, dass wir unseren Kunden nicht mehr so viele Angebote machen können.“

Stadtdirektor Renzel wird noch deutlicher: „Die Kürzungen unserer Integrationsmaßnahmen konterkarieren jede Wachstumsinitiative in der Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Die Ankündigungen in Überschriften haben mit der Realität des Handelns des Bundes nur wenig bis gar nichts zu tun.“

Anschubfinanzierung

Künftig sollen Leute, die nur knapp aus dem Bürgergeld herauskommen, eine „Anschubfinanzierung“ bekommen. Motto: Arbeit soll sich lohnen. Allerdings würden Aufstocker, die weiterhin Grundsicherung beziehen, davon nicht profitieren. Gutschmidt: „Aber viele Menschen, gerade mit Kindern, schaffen es nicht, in eine bedarfsdeckende Arbeit zu kommen. Die Anschubfinanzierung betrifft also nur einen sehr kleinen Personenkreis, im Wesentlichen den der Ledigen.“

„Warum werde ich mit einem Niedriglohneinkommen komplett behandelt wie ein Bürgergeldempfänger?“, fragt Peter Renzel. „Es gibt keinen vereinfachten Antrag, keine Pauschale, keine Entlastung der Kunden und der Jobcenter.“ Gutschmidt und Renzel glauben: Der Verwaltungsaufwand würde auch durch eine Prämie zur Arbeitsaufnahme eher steigen, als dass er sinke.

Weiterbildung

Es ist bereits entschieden, die Fort- und berufliche Weiterbildung zu verlagern vom Jobcenter zur Agentur für Arbeit. „Das ist eine schlechte Entscheidung“, sagt Renzel. „Denn das Jobcenter hat ja weiter die Betreuung der Menschen in Grundsicherung. Die Menschen haben zukünftig für das Thema Weiterbildung dann zwei Ansprechpartner und laufen von Pontius zu Pilatus. Das ist ein Rückfall in alte Zeiten.“

„Grundlage ist eine Haushaltsverschiebung“, erklärt Gutschmidt. Das Jobcenter wird finanziert mit Steuergeldern, die Bundesagentur für Arbeit ausschließlich durch Beiträge. Wenn man nun die Berufliche Weiterbildung dorthin verschiebt, spart man Steuergelder und belastet die Beitragszahler. „Der Kunde muss nun zu zwei Behörden gehen, um eine Weiterbildung zu beginnen. Das ist ein Hemmschuh. Beratung und Umsetzung müssen aus einer Hand kommen.“