Gelsenkirchen. Die Wellpappe-Belegschaft wechselt in eine Transfergesellschaft. 2017 erwarten 96 Betroffene „mit Ungewissheit“ und unsicheren Perspektiven.
- Nach dem Job-Verlust wechselt die Wellpappe-Belegschaft Anfang 2017 in eine Transfergesellschaft
- Die Palm-Gruppe stellt dafür 1,3 Millionen Euro bereit – das Geld soll bis Mitte August reichen
- Viele der Älteren aus der 96-köpfigen Belegschaft rechnen kaum mit Vermittlungschancen
Große Erwartungen hatten sie an ihren Arbeitgeber, den Palm-Konzern, nicht mehr. Doch dann gab es noch eine Überraschung zum Jahresende für die Wellpappe-Belegschaft. „Von Palm wurden 1,3 Millionen Euro angekündigt für die Gründung der Transfergesellschaft. Damit haben wir nicht gerade gerechnet“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Bodo Steigleder. „Wenn das so viel wird wie angekündigt, kommen wir bis zum 15. August 2017 damit aus.“ Siebeneinhalb Monate, in denen die größten Sorgen abgefedert werden.
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Vor dem Werkstor der Wellpappe Gelsenkirchen steht ein gelber Container. Als Treffpunkt und Kontakt-Börse hat er den weißen Pavillon ersetzt, der hier wochenlang stand. Seit dem 31. Oktober trifft sich die Belegschaft immer wieder im Wendekreis am Werk, stand anfangs rund um die Uhr Wache vor „ihrer“ Firma, die über nacht auf ihre Mitarbeit verzichtete.
96 Mitarbeiter auf Widerruf freigestellt
Per Brief-Bote war die Hiobsbotschaft zugestellt worden. In dürren Zeilen stand dort, dass der Wellpappe Standort Gelsenkirchen in die Insolvenz gehen wird, dass die 96 Mitarbeiter auf Widerruf freigestellt werden. Wachschutz verhinderte von diesem Tag an den Zugang, das letzte Gehalt stand noch aus. Die Not war groß, die Wut auch.
Auch 88 Tage später stehen sie nach den Weihnachtstagen wieder vor dem Tor. Steigleder zum ersten mal nach ein paar Tagen Pause. „Ich brauchte etwas Abstand“, sagt der 58-Jährige, der mit der Pleite in den Blickpunkt rückte – im Streit mit dem Konzern, als Interviewpartner für die Medien, als Vertreter der Belegschaft vor dem Arbeitsgericht. Wie die anderen Betriebsratsmitglieder auch wird er von Wachleuten begleitet, wenn er das Betriebsratsbüro aufsucht. Den Zugang hat man sich erst vor Gericht erstreiten müssen.
Der dritte Geschäftsführer seit 2006
29 Jahre lang war Steigleder bei Wellpappe beschäftigt, die letzten 14 davon in der Qualitätssicherung und im Labor. Betriebsrat ist er seit 26 Jahren, seit 23 Jahren der Vorsitzende. Allein seit 2006 hat es bei Wellpappe drei Geschäftsführer gegeben. Viele der Beschäftigten sind seit Jahrzehnten im Betrieb – auf 39 Jahre bringt es Ralf Mehnert (59). Er war der Betriebsstaplerfahrer. Auch ihn zieht es immer mal wieder zum Werkstor, zum Austausch mit den Kollegen. „Das tröstet und ist frustrierend zugleich“, sagt er. „Es ist diese Ungewissheit, die alle trifft.“
„Es kommen ja immer neue Informationen“, meint eine Frau. „Aber vieles ist ja noch fraglich. Schriftlich hat bisher keiner was.“ So sieht es auch Guido Leone. Über 40 Arbeitsjahre hat er auf dem Buckel. „Jüngere Leute haben bessere Chancen. Jetzt muss man die letzten Jahre gucken, wie man die überbrückt.“
Auf dem Werksgelände hat ein Spediteur seinen Sitz. Ab und an fährt ein Lastzug vor. Nach der Inventur unter Beteiligung des Betriebsrats im November hat die Belegschaft ihre Werksblockade aufgegeben. Seither wird wieder Ware abgeholt. „Da lagern noch 2500 Paletten mit Kartonagen, die wir produziert haben“, sagt Siegfried Stapel. 39 Jahre war er im Werk aktiv, zuletzt als Produktionsleiter. „Ich werde 63“, sagt Stapel. „Da sehe ich 2017 persönlich gelassen entgegen.“
Zunächst werden 80 Prozent vom Bruttolohn gezahlt
Die Hoffnung, eine Anschlussbeschäftigung zu finden, haben die Älteren nicht. Und dass es vor Ort noch einmal weitergeht, dass sich ein Investor findet? „Für uns ist hier im Werk Ende. Ob hier nochmal was passiert, steht in den Sternen. Und wenn, dann bestimmt nicht mit uns“, sind sich die Männer im Container einig.
Bislang ist lediglich von einem Kollegen bekannt, dass er eine neue Stelle gefunden hat. „Vielleicht sind es ja auch mehr“, rätseln die Männer. Aber darüber rede man vielleicht nicht gerne mit denen, die derzeit keine Perspektive haben. Für Oktober und November hat die Agentur für Arbeit das Gehalt nach Intervention durch die Stadtspitze vorfinanziert, für Dezember gab es Insolvenzausfallgeld, in der Transfergesellschaft werden 80 Prozent vom Bruttolohn gezahlt. Ab Februar, sagt Leone, „wird der ein oder andere merken, wie es in die Knie geht“.
Der Betriebsrat hat mit BOB Transfer aus Essen Kontakt aufgenommen. „Die haben uns im Vorfeld gut beraten“, sagt Steigleder. Die Transfergesellschaft wird ab Januar an ihrem Slogan gemessen – „mit BOB zum Job“.