Essen. Das MRKH-Syndrom wird oft beim ersten Frauenarztbesuch entdeckt. Die Diagnose ist ein Schock. Die Essener Selbsthilfegruppe stärkt die Frauen.
Die Fehlbildung ist angeboren und bleibt trotzdem erstmal unentdeckt: Weibliche Babys mit MRKH-Syndrom sehen äußerlich genauso aus wie andere kleine Mädchen. Ihre äußeren Geschlechtsorgane sind normal ausgebildet. Meist fällt erst in der Pubertät auf, dass ihnen Vagina und Gebärmutter fehlen. Die Jugendlichen erleben das dann als Schock, zweifeln, fragen sich: „Bin ich überhaupt eine Frau?“ In Essen will eine neue Selbsthilfegruppe Betroffene vernetzen und stärken.
Erst beim Frauenarztbesuch wird die angeborene Fehlentwicklung entdeckt
Alisa gehört zu den Initiatorinnen der neuen Gruppe. Sie ist 33 Jahre alt, geht inzwischen gelassen mit dem Thema um, möchte aber nicht mit ihrem Nachnamen erscheinen. Mit 15 Jahren hat sie den ersten Termin beim Frauenarzt: Sie wartet auf ihre Regelblutung, möchte auch über Verhütung sprechen. Der erste Sex ist neben der ausbleibenden Menstruation ein typischer Anlass, der zur Entdeckung von MRKH führt.
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Da die Vulva normal ausgebildet ist und es einen kleinen Vaginaleingang gibt, verstehen die (noch unerfahrenen) Frauen nicht, warum es mit dem Geschlechtsverkehr nicht klappt. Sex ist schmerzhaft oder unmöglich, manche fragen sich verzweifelt: „Warum finde ich nicht das richtige Loch?“ Wer solche Schilderungen zu explizit findet, sollte sich vor Augen führen, welche Katastrophe diese Erlebnisse für die jungen Frauen bedeuten, die nichts von ihrer anatomischen Besonderheit ahnen.
Nicht immer bekommen sie beim Frauenarzt Antworten auf ihre Fragen. Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom, so die ausgeschriebene Bezeichnung, betrifft nur etwa eine von 5000 Frauen, seine Ursachen sind bis heute nicht abschließend geklärt. Auch gibt es neben dem beschriebenen Typ einen zweiten, der mit weiteren Symptomen einhergeht. Bis zur richtigen Diagnose vergeht daher meist einige Zeit. Oft werde etwa ein „zu festes Jungfernhäutchen“ für die Probleme beim Sex verantwortlich gemacht.
„Viele fürchten, dass ihr Partner sie verlassen könnte.“
Relativ leicht lässt sich das Fehlen der Gebärmutter feststellen, meist schon per Ultraschall. Zur Absicherung wird in der Regel ein MRT gemacht. So geschieht es damals auch bei Alisa, die Glück hat, dass ihr Gynäkologe MRKH kennt und schnell die richtige Diagnose stellt. Danach geht es mit Tempo weiter: „Nur zwei Monate später hatte ich die OP im Vaginalbereich.“ Neben einer allmählichen Dehnung ist das ein Weg, eine Vagina nachzubilden und Geschlechtsverkehr zu ermöglichen.
Damals hinterfragt Alisa die Operation nicht, es läuft ja alles gut. Heute sagt sie, es wäre besser, jungen Frauen die Zeit zu lassen, sich auch über langsamere Behandlungswege zu informieren. „Eine solche OP ist schon eine krasse Erfahrung.“ Problematisch sei auch, dass man den Patientinnen nebenbei vermittle: „Ich bin kaputt und muss repariert werden.“ Dabei zweifeln viele ohnehin an ihrer Weiblichkeit. „Viele fürchten, dass ihr Partner sie verlassen könnte.“
Lehrmaterial? Medizinstudenten schauen sich die jungen Patientinnen an
Das ungute Gefühl, anders als alle anderen Frauen zu sein, werde mitunter durch die Ärzte verstärkt. Alisa weiß von jungen Frauen, die zur Behandlung an Unikliniken überwiesen wurden: „Da schauten sich das dann die Medizinstudenten an.“ Traumatisch.
In den vergangenen Jahren sei die Sensibilität im Umgang mit dem Thema gewachsen. Viele Betroffene nehmen nun psychologische Hilfe wahr, was Alisa damals ablehnte. Eine ihrer drei Schwestern wies sie aber auf ein Forum im Netz hin, in dem sich Frauen mit MRKH austauschen und über das Syndrom aufklären.
Selbsthilfegruppe für MRKH-Betroffene
Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH) ist eine seltene Fehlentwicklung bei Frauen. Die Betroffenen haben keine (oder eine nur rudimentär ausgebildete) Gebärmutter und keine oder eine verkürzte Vagina. Die Vulva (die äußeren Geschlechtsorgane) ist regulär ausgebildet. Äußerlich unterscheiden sich MRKH-Betroffene also nicht von anderen Mädchen und Frauen, daher bleibt das MRKH-Syndrom oft lange unentdeckt.
Die Eierstöcke sind in der Regel vorhanden und produzieren weibliche Hormone: In der Pubertät erleben die betroffenen Frauen also das Wachstum von Brüsten und Schambehaarung. Die Menstruation bleibt jedoch aus. Oft sind die ausbleibende Regelblutung oder eine erste intime Partnerschaft der Anlass für einen Frauenarztbesuch. Die fehlende Gebärmutter kann meist bereits mithilfe eines Ultraschalls diagnostiziert werden. Da das Syndrom bis heute leider nicht jedem Mediziner bekannt ist, kann es bis zur Diagnose eine Weile dauern.
Weitere Informationen gibt es beim Verein „MRKH-Miteinander“ auf: www.mrkh-miteinander.de/ Die Essener Selbsthilfegruppe trifft sich am Sonntag, 16. Februar, von 15 bis 18 Uhr. (Das folgende Treffen ist am 11. Mai). Anmeldung und Infos per Mail an: alisa@mrkh-miteinander.de
Im Jahr 2009 gibt es in Frankfurt ein erstes Deutschlandtreffen, bald entsteht die Idee, sich in regionalen Gruppen regelmäßig zu sehen: Frauen aus Dortmund, Gelsenkirchen, Herne oder Köln kommen dafür nach Essen. „Wir haben uns öfter in einem Café getroffen, aber da ist es schwierig, über so intime Themen zu sprechen.“ Sie sei darum froh, dass die Essener Selbsthilfeberatung „Wiese“ bei der Gruppen-Gründung geholfen und Räume im Krupp-Krankenhaus vermittelt habe.
Viele schämen sich für die Diagnose, behandeln sie als Geheimnis
Früher sei Frauen nach der Operation meist geraten worden, nicht über das Thema zu reden. Dabei werfe das MRKH-Syndrom schwerwiegende Fragen nach Identität, Kinderwunsch und Lebensplanung auf. „Ich habe mich mit 16 gefragt, ob mein Freund noch mit mir zusammen sein will, obwohl ich keine Kinder bekommen kann.“ Vielen Betroffenen sei ein unbeschwertes Dating unmöglich: Das Thema schon mit der ersten Teenie-Liebe zu behandeln, sei befremdlich, nichts zu sagen, fühle sich auch falsch an: „Man hat die ganze Zeit das Gefühl, ein großes Geheimnis in sich zu tragen.“
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Dazu kommt die Traurigkeit, wenn man so früh wisse, dass man keine Kinder bekommen könne. Alisa, die heute als Umweltingenieurin arbeitet, dachte lange: „Wenn ich kein Kind bekomme, muss ich Karriere machen.“ Sie kenne auch Frauen, die mit 16 angefangen hätten, für eine Leihmutterschaft zu sparen. Heute gebe es auch die Möglichkeit einer Gebärmutterspende. Für sie selbst sei das keine Option.
„Ich bin achtfache Tante, habe also Kinder in meinem Umfeld, die ich liebe und die mich lieben. Das ist ein schönes Gefühl.“ Andere Frauen entwickelten psychische Probleme, würden depressiv. „Sie trauern wegen der Kinderlosigkeit, schämen sich für das Syndrom.“ In Sozialen Medien gebe es Kommentare, sie seien keine „richtigen“ Frauen, und Ärgeres.
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Auch die Eltern leiden oft sehr mit, wenn die Töchter keine Kinder bekommen können. „Für meine Mutter brach erstmal eine Welt zusammen.“ Aus dieser Erfahrung heraus möchte der MRKH-Verein auch Sprechstunden für Angehörige anbieten. Längst hat man sich auch zum Ansprechpartner der Universitäts-Frauenklinik Tübingen entwickelt, die auf das MRKH-Syndrom spezialisiert ist. „Eine Ärztin sagte mal, durch die Arbeit der Community gebe es heute weniger Fehldiagnosen.“
Selbsthilfegruppe will die Betroffenen stärken: Es gibt so viele Lebensmodelle
Wer die Diagnose bekomme, fühle sich erstmal sehr allein. Die Selbsthilfegruppe wolle Frauen dieses Gefühl nehmen, sie informieren und vermitteln, dass es neben der Familie andere Lebensmodelle gibt. Alisa etwa hat sich vom vermeintlichen Zwang zur Karriere befreit und beginnt dieses Jahr ein Sabbatical. „Ich mache mit meinem Partner eine Weltreise mit dem Fahrrad.“
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