Essen. Fast 8600 Fundsachen wurden 2024 in Essener Bussen und Bahnen gesammelt. Die Fundbüro-Mitarbeiter erleben so einiges. Ihre schrägsten Geschichten.
Vormittags gegen zehn, die neueste Lieferung trifft ein. Rüdiger Holtbrügge hält einen Leinenbeutel am Henkel, schaut hinein, zieht eine Plastikdose heraus, in der eine trübe Flüssigkeit schwappt. „Knoblauchsauce“, vermutet er. Zwei Ruhrbahn-Mitarbeiter in dunkelblauen Jacken tragen weitere Gegenstände herein und legen sie auf dem gefliesten Fußboden ab. Pralle Rucksäcke, eine gefüllte Aldi-Tüte, eine große Wanduhr mit schnörkeligen Ziffern.
Alles, was am Vortag in den Essener Bahnen und Bussen liegen geblieben ist. In der Regel wird es erst auf den Betriebshöfen gesammelt und am Folgetag ins Fundbüro der Ruhrbahn gebracht, in der U-Bahn-Station Berliner Platz. Direkt daneben liegt ein Friseur, schräg gegenüber ein Nagelstudio. Holtbrügge ist einer der beiden Mitarbeiter, die hier hinter einer breiten Plexiglasscheibe Dienst tun. Die Knoblauchsauce von gestern findet er unappetitlich, aber schlimmer waren vor Jahren die Fischstäbchen. Er dreht sich zu seiner Kollegin, Beate Chleborad. „Hast du das mit den Fischstäbchen schon erzählt?“
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Ruhrbahn-Fundbüro in Essen: fast 8600 Teile im Jahr 2024
Ja, sie hat es schon erzählt. Die Geschichte geht so: Eine Damenhandtasche wurde ins Fundbüro gebracht. Montags. Leider lag ein Wochenende dazwischen, die Tasche war schon fünf Tage vorher gefunden worden. Der Inhalt bahnte sich geruchstechnisch bereits seinen Weg in die Atmosphäre. „Fischstäbchen“, sagt Beate Chleborad. „Aufgetaut. Das hat so schlimm gestunken.“ Zum Glück fanden sich Adresse und Rufnummer der Besitzerin in der Tasche. Sie wurde aufgefordert, die Tasche binnen einer Stunde abzuholen. Das tat sie dann auch.
Genau 8584 Teile sind im vergangenen Jahr im Essener Fundbüro der Ruhrbahn gelandet, die ein zweites an der Haltestelle Heißen Kirche in Mülheim betreibt, oberirdisch. Vor Corona seien es wesentlich mehr Fundstücke gewesen, erinnert sich das Team. Zwölf- bis Dreizehntausend. Eine schlüssige Erklärung haben sie dafür nicht. „Ich tippe, dass die Leute jetzt besser auf ihre Sachen aufpassen“, mutmaßt Beate Chelborad. Warum auch immer.
Alle Fundstücke werden digital erfasst - „böse Blicke“, wenn etwas nicht da ist
Alles, was angeliefert wird, erfassen sie digital, in langen Listen. Wenn jemand im Fundbüro anruft und nach einem Stück fragt, sehen sie nach. „Rucksack, Fila, schwarz, Farbdose“ steht da beispielsweise. Aufgefunden am 29.12., 19.27 Uhr, Linie 174. Oder: „Herrenstiefel, braun“, gefunden am 28.12., 16.30 Uhr, in der 106. Mützen, Handschuhe, Schirme werden massenhaft liegen gelassen und vom Ruhrbahn-Personal eingesammelt. Ebenso Leinentaschen, die sie hier unter der Abkürzung „UWB“ erfassen, Umweltbeutel. „UWB, ASB, gelb, Putzlappen“.
Wenn eine Adresse bekannt ist, bekommt die Person eine Postkarte. Wer etwas vermisst, muss genau angeben, wann und in welcher Linie der Gegenstand verloren wurde. Nicht allen können die Fundbüro-Mitarbeiter helfen, schon gar nicht sofort. Manche stehen dann erbost vor der Plexiglasscheibe. „Böse Blicke gibt es tagtäglich, wenn wir Sachen noch nicht da haben“, berichtet Rüdiger Holtbrügge. Einmal sei er massiv bedroht worden. Ein Mann kam, begleitet von seinen Eltern, auf der Suche nach dem verlorenen Hörgerät des Vaters, angeblich verloren gegangen durch Einklemmen des Seniors in einer U-Bahn-Tür. „Wir hatten es nicht. Da wollte er mir die Zähne ausschlagen“, sagt der Ruhrbahn-Mitarbeiter. Er habe sofort den Sicherheitsdienst gerufen.
Viele Kunden sind froh und dankbar - ein Paar bekam einen Goldbarren zurück
Viel häufiger aber seien die Kundinnen und Kunden glücklich und dankbar, sagen Holtbrügge und Chleborad. Ältere Frauen, die Geldbörsen mit Fotos ihrer verstorbenen Ehemänner zurückbekommen. Kinder, die Wiedersehen mit Kuscheltieren feiern. Das Paar, das Reisegepäck mit 500 Euro Bargeld und einem 100-Gramm-Goldbarren stehen ließ. Zahlen muss übrigens niemand für den Service des Fundbüros.
In den Räumlichkeiten am Berliner Platz stehen Regenschirme in allen Größen und Farben, Rucksäcke jeglicher Art. Werkzeugkisten. Unzählige kleine Boxen für Bluetooth-Kopfhörer, meist leer. Wertsachen wie Handys, Schlüssel, Notebooks oder Uhren liegen in einem verschließbaren Schrank, nach Monaten sortiert. Auch einige Autoschlüssel haben sich angesammelt, BMW, Mazda, Ford.
Einmal jährlich werden Fundsachen der Ruhrbahn in Essen versteigert
Die offizielle Aufbewahrungsfrist seien sechs Wochen, erklärt Michael Freuling, zuständiger Abteilungsleiter unter anderem für die Kundencenter der Ruhrbahn und das Fundbüro. Dann werden die Sachen ins Lager gebracht, nur wenige Schritte vom Fundbüro entfernt. Nach etwa einem Jahr werde aussortiert. Brauchbare Dinge werden einmal jährlich versteigert. Bislang habe man dafür immer eine Halle in Essen-Frohnhausen angemietet, berichtet Freuling, könne sich aber auch eine Kooperation mit dem Fundbüro der Stadt Essen vorstellen.
Bücher kann man sich im Fundbüro kostenlos abholen. Brillen würden an einen Optiker weitergegeben, der sie an Bedürftige spende, ergänzt Beate Chleborad. Der offenbar frisch gekaufte Kanarienvogel, den sie mal im Karton bekamen, wurde ins Tierheim gebracht. Den E-Scooter, der aktuell im Lager steht, will sie erst der Polizei melden, um zu klären, ob er gestohlen wurde. Dort haben sie aktuell auch eine Posaune im Koffer, ein Fahrrad und einen Rollator stehen. Taschen und Sportbeutel türmen sich fast bis unter die Decke. Sogar Rollstühle werden gelegentlich in öffentlichen Verkehrsmitteln vergessen, die Fundbüro-Frau witzelt darüber: „Eingestiegen sind sie schwerkrank, ausgestiegen gesund.“ Wunderheilung in Bus und Bahn?
Google-Rezensionen zweifelhaft: „Viele schreiben nur das Negative“
Auf Google wird das Fundbüro der Ruhrbahn mittelmäßig bewertet, im Schnitt mit drei von fünf Sternen. Die Rezensionen reichen von „sehr sehr unhöflich“ bis „außerordentlich hilfsbereit“. Man messe dem keine Bedeutung bei, sagt Michael Freuling, der Abteilungsleiter. „Viele Leute schreiben nur das Negative, wollen schnell Frust loswerden. Diejenigen, die zufrieden sind, schreiben meist nicht.“ Häufiger wird kritisiert, das Fundbüro sei auch während der Öffnungszeiten telefonisch nicht erreichbar. Die Mitarbeiter räumen ein, dass das sein könne, insbesondere, wenn nur einer im Dienst ist und auch Kunden vor Ort bedienen muss. Alternativ gibt es eine Mailadresse.
Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Geschichte mit dem Gebiss. Beate Chleborad hat noch einmal das Wort. Der Zahnersatz wurde in Bus oder Bahn lose aufgefunden, „ich weiß nicht, wie man so was verlieren kann“, in eine Tüte gepackt, aufbewahrt. Der Eigentümer sei später erschienen, habe die Prothese, ungereinigt, wie sie war, eingesetzt und gesagt: „Passt. Ist meins.“ Da musste selbst das Fundbüro-Team schlucken. „Zwei Tage später hatte ich Herpes.“
Ruhrbahn Fundbüro, Berliner Platz, Verteilerebene (U-Bahn), geöffnet montags bis freitags 8 bis 16 Uhr, Tel. 0201-826-2400, fundbuero@ruhrbahn.de.
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