Essen-Leithe. Hevres Becker kam 1987 mit ihrer Familie als Geflüchtete nach Essen, fasste in der Litterode Fuß. Nun fürchten sie um ihre Heimat - zum zweiten Mal.
Der Vergleich zum berühmten gallischen Dorf liegt irgendwie in der Luft. Zehn immer noch ausharrende Familien möchten ihre Siedlung Litterode in Essen-Leithe einfach nicht aufgeben. Der Abriss ihrer Zechenhäuser droht, läuft nebenan schon, aber sie wehren sich. Die Kündigung des neuen Eigentümers Allbau, der die Siedlung von der Stadt gekauft hat, halten sie längst in Händen. Hier sollen Neubauten entstehen. Eine gut besuchte symbolische „Sanierung“ bestärkte die letzten der Litteroder jedoch darin, auszuharren. Was sind das für Menschen, die geradezu verbissen um ihre Heimat kämpfen?
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Ihre Sprecherin Hevres Becker blickt sich um: „Als meine Familie 1987 hier einzog, war ich so alt wie meine Tochter heute. Sie vermisst ihre Freunde, die schon weggezogen sind. Sie sagt, dass sie hier nicht weg möchte. Wie soll man das einem Kind erklären?“ Und doch soll das Doppelhaus abgerissen werden, in dem sie mit ihrer kleinen Familie und auch ihre Eltern wohnen. Die 43-Jährige senkt die Stimme: „Wir sollen zum zweiten Mal vertrieben werden aus unserer Heimat.“ Damals sind sie aus dem Irak gekommen.
Familie. Heimat. Vertreibung. Worte, die ansatzweise erklären, warum sich diese nicht groß gewachsene, aber durchaus resolute Frau widersetzt. Zu neunt habe man damals gewohnt auf 120 Quadratmetern. Sie schaut alte Fotos durch. Die zeigen die kleine Hevres mit ihren Geschwistern, mit der gesamten Familie: „Es war eine schöne Kindheit. Wir haben natürlich nie tolle Urlaube machen können, aber uns hat nichts gefehlt. Wir sind halt ganz normale Menschen.“ Zugegeben, ihre Siedlung, die einst als Obdachlosenunterkunft diente, hatte seitdem einen schlechten Ruf. Auch standen nebenan „verrufene“ Häuser, von denen Anfang der 1980er Jahre Aggression ausging, die aber längst abgerissen sind.
Hevres Becker und ihre Mitstreiter widersetzen sich einer Entscheidung des Stadtrates: Abriss und Neubau. Denn Essens größter Wohnungsanbieter Allbau möchte an diesem Standort 73 neue Wohneinheiten bauen. Hier sollen staatlich geförderte, sogenannte „Sozialwohnungen“ entstehen und dazu noch Einfamilienhäuser zum Verkauf. Dringend benötigter Wohnraum für untere und mittlere Einkommen, so der Allbau.
Für die derzeitigen Bewohner bedeutet das, dass sie ihr Zuhause verlieren. Für immer. Dabei lebten sie bis dahin in einer großen Gemeinschaft. Die kleine Hevres Abdulla war in der Grundschule eine „mittelmäßige“ Schülerin. Folglich verschlug es sie auf die Hauptschule. Dort aber erkannten engagierte Lehrer, dass in ihr mehr steckte: „Ich bin aufs Aufbaugymnasium gegangen und habe Abitur gemacht.“ In der Litterode halfen Erzieher ihrer Kita noch, als sie schon eine junge Frau war. Nach Ausbildung zur Bürokauffrau ist sie Sachbearbeiterin eines Anbieters für Gesundheitsmanagement. Ihr Mann Oliver arbeitet bei einem Heizungs-Unternehmen im Innendienst.
Es gibt einen Alternativplan für die Siedlung Litterode in Essen-Leithe
Auch ihre sechs Geschwister machten ihren Weg: „Eine Schwester hat ihren Master gemacht und ist Regionalmanagerin einer Kinderrechtsorganisation. Ein Bruder ist selbständig mit einem Handwerksbetrieb. „Ein anderer Bruder sei leider gestorben.“ So sehr die Familie auch verstreut sei: „Am Wochenende kommen alle mit ihren Familien hier zur Litterode. Hier ist unsere Zentrale.“
Den Mietern ist bereits gekündigt worden zum 31. Oktober, doch sie bleiben. Hevres Becker zuckt mit den Achseln: „Wo sollen wir hin?“ Auf eigene Faust sei nichts zu finden. Und die vom Allbau vorgeschlagenen Wohnungen? Eine lag direkt an der Hauptstraße: „In einer anderen war ein Kinderzimmer nicht größer als eine Abstellkammer.“ Die dritte Wohnung sei auch nichts gewesen. Die vierte dagegen sei eine absolute „Traumwohnung“ gewesen: „Doch dann habe ich dort Schimmel entdeckt.“
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Allbau-Prokurist Samuel Šerifi habe gesagt, dass diejenigen Litteroder, die für einen „Wohnberechtigungsschein“ (WBS) berechtigt seien, sich ja auf die neuen Wohnungen in Leithe bewerben könnten. Sie würden dann bevorzugt beurteilt. Viele der Bewohner liegen mit ihrem Gehalt jedoch knapp über der WBS-Grenze. Die Beckers auch.
Er verstehe die Betroffenheit derer, die ihre Heimat aufgeben müssten, gab Allbau-Geschäftsführer Dirk Miklikowski zu Protokoll. Aber hier gehe es um zehn Haushalte, die „nichts anderes tun, als Partikularinteressen zu schützen“. Der Mehrwert für die Stadtgesellschaft sei bei Abriss und Neubau größer. Die bestehenden Gebäude hält der Vermieter ohnehin für nicht mehr sanierbar.
Doch es liegt ein Alternativplan vor, den der Stadt- und Raumentwickler Professor Tim Rieniets entwarf, er lehrt an der Universität Hannover. Dieser Plan war dem Essener Baudezernenten Martin Harter übergeben worden. Ein Gespräch steht an. Dieser Plan würde sogar noch mehr Wohneinheiten schaffen, als der Allbau geplant hat. Auch sollen einige Häuser stehenbleiben, energetisch saniert und erweitert werden. Deswegen entstand die Idee, nun lediglich „symbolisch“, aber durchaus publikumswirksam, ein Haus mit Wärmedämmung zu verkleiden. Eine Protestaktion.
Trotzig stellten die Anwohner dazu ein fiktives Bauschild „Sanierung der Siedlung Litterode“ auf, das suggerieren könnte, hier würden Allbau und Stadt Essen tätig. Das sei leider nicht so und daher als Satire zu verstehen, betonte einer. Nach Schreiben des Allbaus haben die Litteroder das Schild dann aber doch entschärft.
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