Essen-Kettwig. Wer Zahnrad, Zeiger und Zifferblatt individuell kombinieren will, ist bei „Uhrkraft“ richtig. Dort kann man bei der Fertigung der Uhr zuschauen.
„Hier bekommt Zeit gleich einen anderen Wert“, sagt Peter Pongratz (60). Nur mit Ruhe kommt der ehemalige Manager zum Ziel. Das haben ihn die vergangenen Stunden, die er im Uhrmacherkurs in der Essener Manufaktur „Uhrkraft“ verbracht hat, bereits gelehrt. Beharrlich und hoch konzentriert versucht er, ein winziges Zahnrad mit der Pinzette an die richtige Stelle des Uhrwerks zu bugsieren, das er kurz vorher selbst auseinandergenommen hat. Wie er, kann jeder in dieser Manufaktur seine eigene Uhr designen.
Nebenan sitzt seine Frau Anja Pongratz (53), bearbeitet ein zweites Uhrwerk unter Anleitung von Uhrmachermeisterin Annika Lüdtke. Auch für Anja Pongratz ist die Handarbeit mit dem Mini-Schraubendreher ziemlich anstrengend und vor allem ungewohnt.
Annika Lüdtke leitet den eintägigen Uhrmacherkurs, an dessen Ende das Ehepaar aus Wuppertal zwei selbst designte, hochwertige Uhren mit nach Hause nehmen wird. Diese setzt allerdings die Meisterin zusammen, denn dabei darf nichts schiefgehen. Schließlich werden die Uhren am Ende zertifiziert und sollen einwandfrei laufen.
In der Manufaktur „Uhrkraft“ in Essen designen Kursteilnehmer ihre Uhren selbst
„Die Uhrwerke, die die Kunden bearbeiten, dienen nur der Übung und dem Verständnis für das Uhrwerk und seine Einzelteile“, sagt Ralf Lehr, Gründer, Inhaber und Geschäftsführer der Manufaktur „Uhrkraft“, in Essen-Kettwig. Die Kursteilnehmer üben an Taschenuhren, weil die ein größeres, einfacheres Uhrwerk als Armbanduhren besitzen. Der Umgang mit den filigranen Einzelteilen ist aber dennoch eine Herausforderung für Laien.
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Diese Erfahrung machen auch Peter und Anja Pongratz. „Der Kurs ist ein Gemeinschaftsgeschenk zum 60. Geburtstag meines Mannes, dafür wurde bei der Feier gesammelt. Und es ist quasi unser nachträgliches Hochzeitsgeschenk. Wir haben 2021 geheiratet“, erzählt die Personalsachbearbeiterin.
Das Essener Unternehmen bietet individuelle Uhren an
Ihr Mann war Manager in der Industrie und befindet sich nach eigenen Angaben gerade „in der Phase der Neuorientierung“. In Richtung Uhrenherstellung wird es für ihn beruflich wohl nicht gehen: In Sachen Handarbeit sei er nicht so geschickt, und wenn, lägen ihm „robuste Dinge“ dann doch eher als so kleinteilige.
„Es wäre schön, wenn die Teile wenigstens magnetisch wären“, wünscht Peter Pongratz nicht ganz ernsthaft. „Das wäre natürlich praktisch, aber dann würde die Uhr nicht funktionieren“, erklärt die Uhrmachermeisterin und alle lachen. Für Spaß ist jedenfalls gesorgt. Der Workshop soll nicht in Stress ausarten, sondern für alle Beteiligten ein gutes Gefühl und viele neue Einblicke und Erfahrungen bringen.
Ein Gutschein für einen Kurs eigne sich auch als Weihnachtsgeschenk der etwas anderen Art, findet Ralf Lehr. Für 799 Euro gibt es ein individuell gestaltetes Basis-Uhrenmodell und den Kurs im Rahmen der Anfertigung kostenlos dazu. Einen eintägigen Grundlagen-Kurs ohne Anfertigung einer Wunschuhr kann man für 349 Euro buchen. Dabei erhalten die Teilnehmer Einblicke in das Uhrmacherhandwerk und die Uhrentechnik.
Am Kurstag dreht sich in Essen-Kettwig alles um das Uhrmacherhandwerk
Anja Pongratz‘ Mann ist „uhrenaffin“, ist vor allem von mechanischen Uhren fasziniert und trägt außergewöhnliche Uhren als einzigen Schmuck. So sei sie auf das ungewöhnliche Geburtstagsgeschenk gekommen, sagt seine Frau, die im Internet das Angebot von „Uhrkraft“ fand und gleich zwei Plätze buchte.
Am Vormittag dreht sich alles um die Theorie. Die Kursteilnehmer erfahren Interessantes zur Geschichte der Uhren, zu den knapp 300 Einzelteilen, aus denen sie bestehen können, aber auch zum Unternehmen „Uhrkraft“. Nach dem Mittagessen steht das haptische Erleben, die praktische Beschäftigung mit dem Uhrwerk, auf dem Programm. Später können Anja und Peter Pongratz zuschauen, wie ihre Wunschuhren von der Expertin zusammengesetzt werden.
„Die Teilnehmer halten am Ende des Tages ihre individuell designte Uhr mitsamt Zertifikat in Händen und haben außerdem noch viel gelernt“, erläutert Ralf Lehr das Konzept. Dabei gehen die Geschlechter oft unterschiedlich ans Werk, weiß er aus Erfahrung. „Den Damen geht es oft ums Design, den Männer eher um die Technik.“ Über 600 Teilnehmer, die oft von weither anreisten, hätten den Kurs schon absolviert. „Viele verbringen hier einige Tage Urlaub, die Frau geht in Düsseldorf auf der Kö shoppen und der Mann gönnt sich in der Zeit den Uhrmacherkurs“, so Lehr.
Die Kurse sind neben Reparatur und Reinigung, An- und Verkauf von Luxusuhren sowie individuellen Anfertigungen das vierte Standbein der Manufaktur. „Durch die Kurse, die es seit 2015 gibt, kommen wir mit den Kunden in eine viel intensivere Beziehung, als das beim reinen Uhrenkauf der Fall wäre. Man verbringt schließlich einen ganz besonderen Tag zusammen“, sagt der Inhaber. Dass das viele Kunden offenbar zu schätzen wissen, zeigen die Einträge ins Gästebuch, das in den Räumen ausliegt.
Im Essener Geschäft sind 40 Modelle in neun Vitrinen zu sehen
Im Geschäft gibt es neun Vitrinen mit 40 verschiedenen Modellen, die als Beispiele dafür dienen, was möglich ist. Die Uhren bewegen sich im mittleren bis gehobenen Preissegment zwischen 800 und 4000 Euro, so Ralf Lehr.
Die Kunden bestimmen, ob es eine mechanische oder automatische Uhr sein soll, welches Zifferblatt in welcher Farbe ihnen gefällt, wie Zeiger, Gehäuse, Anschläge, Krone und Armband aussehen sollen. „Da gibt es eine sechsstellige Zahl an Variationsmöglichkeiten“, hat Lehr ausgerechnet. Jede dieser Uhren sei am Ende ein Einzelstück. „Wir helfen durch eine Art Trichterverfahren bei der Auswahl“, sagt der Inhaber. Die Kunden müssten zunächst zwischen Automatik und Quarzuhr entscheiden. Dann gehe es immer stärker ins Detail. Natürlich spielten auch Passform und Budget eine Rolle. In einem sogenannten „Bauplan“ werden alle Details festgehalten.
Die oft auffälligen Armbanduhren sorgten für Aufmerksamkeit: „Wenn du im Golfclub bist und alle tragen eine Rolex, fällst du mit einer solch individuellen Uhr auf jeden Fall auf“, so Lehr. Es gebe Kunden, die ihre Uhr passend zur Farbe ihres Sportwagens gestalten oder solche, die in Verhandlungen darauf setzen, dass Gesprächspartner durch den Hingucker am Handgelenk abgelenkt sind, plaudert der Firmenchef ein bisschen aus dem Nähkästchen.
Inhaber des Essener Unternehmens wagte vor Jahren einen Neustart
Der 62-Jährige stammt eigentlich aus dem Saarland, hat Betriebswirtschaft studiert und war viele Jahre für internationale Konzerne tätig. Dann orientierte er sich neu, wollte etwas Eigenes machen und gründete 1999 die Marke „Uhrkraft“. Lehr setzt nach eigener Aussage auf hochwertige Teile aus deutscher Produktion, kombiniert mit Schweizer Uhrwerken.
Aus seiner eigenen, kleinen Uhrenproduktion in geringer Stückzahl habe sich das Geschäftsmodell „Einzelanfertigung nach Maß“ entwickelt. Lehr arbeitet heute mit drei Uhrmachermeistern, einem Auszubildenden, einer Marketingassistentin und einer Bürokraft zusammen. Seit 2013 befindet sich das Geschäft am heutigen Standort an der Ringstraße 1 in Kettwig. „Wir versuchen, jedes Jahr auszubilden. Der Uhrmacherberuf ist immaterielles Weltkulturerbe. Er darf nicht aussterben.“
Informationen und Anmeldung unter 02054-1240556, E-Mail: info@uhr-kraft.com oder auf www.uhr-kraft.com
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