Essen. Marie Heupel hilft beim Essener Arztmobil. Viele Patienten brauchen nicht nur Tablette oder einen Verband. Die Probleme liegen tiefer.

Marie Heupel ist 23 Jahre alt, studiert im siebten Semester Medizin – und hat durch ihren Einsatz beim Essener Arztmobil schon viel mehr Patientenkontakt als ihre Kommilitonen. Regelmäßig ist die angehende Ärztin damit unterwegs, hilft Wohnungslose, Suchtkranke und Straßenkinder medizinisch zu versorgen. „Hier lerne ich Menschen mit Lebensgeschichten kennen, die vom Durchschnitt abweichen.“ Heftige Geschichten.

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Im Arztmobil wird nicht über die Patienten geurteilt, sondern gefragt, wie man ihnen am besten helfen kann. Und das ist nicht immer mit einer Tablette oder einem Verband getan. „Wir sehen auch die Probleme der Menschen“, sagt die Ärztin Ursula Schürks, die gemeinsam mit der medizinischen Fachangestellten Steffi Löhr das feste Arztmobil-Team stellt.

Beim Essener Arztmobil brauchen Patienten keinen Termin

Die beiden sind bei der GSE angestellt und touren von Montag bis Freitag durch die Stadt. Machen nach Plan in der Innenstadt oder etwa an einem Übergangswohnheim Station und behandeln all jene, die den Weg zur rollenden Praxis finden, sagt Ursula Schürks: „Bei uns braucht man keinen Termin.“ Auch eine Krankenkassenkarte braucht man nicht zwingend.

„Wir wollen niemanden missionieren, sein Leben zu ändern – und wir haben Zeit, die in der normalen Hausarztpraxis fehlt“, erklärt Ursula Schürks, Ärztin vom Essener Arztmobil.
„Wir wollen niemanden missionieren, sein Leben zu ändern – und wir haben Zeit, die in der normalen Hausarztpraxis fehlt“, erklärt Ursula Schürks, Ärztin vom Essener Arztmobil. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Es kommen Menschen, die in der Notschlafstelle oder auf der Straße übernachten. Rumänen oder Bulgaren zum Beispiel, die oft in miserablen Jobs für zwei bis drei Euro Stundenlohn arbeiten. Frauen, die sich prostituieren, um ihre Sucht zu finanzieren – und die Drogen brauchen, um den Straßenstrich zu vergessen. Denen könne man nicht einfach sagen, dass sie einen Entzug machen sollen. „Wenn sie die Drogen aufgeben, haben sie gar nichts mehr: keine Freunde, keine Arbeit, keine Hobbys.“

Das Menschliche komme im Medizinstudium leider oft zu kurz

„Wir fragen nach den Gründen für diese Lebensgeschichten“, sagt Marie Heupel, die seit April 2022 als Aushilfskraft im Arztmobil mithilft. Sie wolle den Menschen Respekt zeigen, die mit Armut, Alleinsein und psychischen Problemen kämpfen. Was sie bei diesen Einsätzen erlebe, sei quasi angewandte medizinische Ethik: „Die kommt im Studium leider viel zu kurz.“ Wer Medizin studiere, müsse sich enorm viel Stoff aneignen und gründlich auf Prüfungen vorbereiten; über Fachwissen und Erfolgsdruck gerate mitunter das Menschliche aus dem Blick. Zumal das Studium nicht nur zeitintensiv sei, sondern auch Konkurrenzdenken befördere.

Arztmobil ist seit einem Vierteljahrhundert unterwegs

Das Essener Arztmobil der GSE tourt seit 1996/97 täglich durch Essen und öffnet an bestimmten Stationen Menschen ohne festen Wohnsitz, Suchtkranken, Straßenkindern und anderen sozial schwächer gestellten Personen die Tür zu einer medizinischen Grundversorgung. Das Fahrzeug wurde eigens für diesen Zweck gebaut und durch die Alfred-Krupp- und Friedrich-Alfred-Krupp-Stiftung finanziert.Ärztin Ursula Schürks arbeitet mit der Medizinischen Fachangestellten Steffi Löhr auf engstem Raum. Auf dem GSE-Gelände an der Grabenstraße wird das Arztmobil täglich neu mit Medikamenten, Verbandsmaterialien und medizinischen Instrumenten bestückt. Neben der medizinischen Versorgung kommt es vor, dass Rezeptgebühren übernommen oder Essens-Gutscheine ausgegeben werden. Oder dass ein Krankenzimmer zur Verfügung gestellt wird, damit ein Patient ein paar Tage Ruhe finden kann. Infos auf: www.gse-essen.de

Marie Heupel vermisste das Soziale und erinnerte sich, dass sie schon als Jugendliche über ein Arztmobil in Mainz gelesen hatte. „Ich hab’ gegoogelt, ob es sowas auch in Essen gibt.“ Gibt es, und zwar schon seit einem Vierteljahrhundert. Nun fährt sie meist tageweise mit, war auch schon mal zwei Wochen mit auf Tour und erlebt einen besonderen Umgang mit Menschen, die als abgehängt gelten.

„Wir wollen niemanden missionieren, sein Leben zu ändern – und wir haben die Zeit, die in der normalen Hausarztpraxis fehlt“, erklärt Ursula Schürks. Sie behandeln Grippe und Kopfschmerz genauso wie den Spritzen-Abszess vom Drogenkonsum. Und sie setzen ihre Patienten schon mal ins Taxi zur Notaufnahme, wenn ein stationärer Aufenthalt angezeigt ist.

Das Leben auf der Straße lässt viele Menschen früh sterben

Wenn jemand eine hartnäckige Hautkrankheit hat, es aber an guter Körperpflege und sauberer Kleidung hapert, erschwert das die Behandlung. Sie bedenken das, suchen Wege auch diesen Patienten zu helfen. Leider hätten viele nie gelernt, für sich selbst zu sorgen: Es koste sie Kraft, überhaupt zum Arztmobil zu kommen, Nachsorgetermine ließen sie häufig ausfallen – mit teils schlimmen Folgen. Wie bei der jungen Frau, der beide Beine amputiert werden mussten.

Marie Heupel erzählt von dem Mann, dessen Geschwüre an den Beinen sie schon mit erstem Erfolg behandelt hatte, und der sich danach leider lange nicht mehr blicken ließ. „Als er dann kam, waren seine Beine nicht mehr als solche zu erkennen“. Kurz darauf starb er. Ein Tod, der vermeidbar gewesen wäre und der die 23-Jährige auch deshalb so aufwühlte, dass sie nachts wach lag und aufschrieb, was geschehen war. Das Leben auf der Straße lasse viele Menschen früh sterben. „Das berührt mich.“

Bei jahrelang Drogenabhängigen sei die innere wie die äußere Struktur zerstört. Manchen gebe ein Projekt wie „Pick-up“ Halt, bei dem die Teilnehmer stundenweise die Straße reinigen. „Ein geniales Angebot“, sagt Schürks. Manchmal finde auch jemand aus der Sucht: Kürzlich habe ein ehemaliger Patient das Arztmobil besucht, der nun seit vier Jahren clean sei und Jugendliche vor Drogen warne.

Im Krankenhaus erlebte sie Vorurteile gegen suchtkranke Patienten

Als sie mal auf der Intensivstation eines Krankenhauses gearbeitet hat, seien dort viele Alkoholkranke und Drogensüchtige eingeliefert worden, erzählt Marie Heupel. Der Umgang mit ihnen sei oft von Vorurteilen geprägt gewesen, erinnert sie sich: „Es hieß: ,Da ist schon wieder so ‘en Junkie.“ Das Team des Arztmobils frage sich dagegen: „Was kann man über die medizinische Versorgung hinaus für den Menschen tun?“

Eine Frage, die sich jeder Mediziner stellen könne. „Es ist eine Herausforderung des ärztlichen Berufs, bei aller Professionalität auch Empathie für die Patienten zu haben, sich in sie einzufühlen“, sagt Marie Heupel. Der Einsatz auf dem Arztmobil lehre Demut und Dankbarkeit für das eigene Leben: „Und das führt zu einem Gefühl der Verantwortung.“ Für diejenigen, die es nicht so gut angetroffen haben.

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