An Rhein und Ruhr. . In NRW leben Tausende Heroinabhängige. Viele sind obdachlos oder haben keine Krankenversicherung. Ursula Schürks im Arztmobil hilft ihnen dennoch

Markus lehnt fröstelnd an der Wand des Sozialzentrums in der Lindenallee in Essen, die Augen auf Halbmast, die Hände in den Taschen. Seine Lunge schmerzt. Auf der Straße holt man sich schnell was weg, gerade jetzt, wo es kalt geworden ist. In eine normale Arztpraxis traut er sich nicht, er ist nicht krankenversichert. Deswegen ist er zum Arztmobil gekommen, in dem jeden Morgen ab 10 Uhr Menschen wie er behandelt werden.

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Drinnen schaut sich Ursula Schürks gerade die offene Wunde auf dem Unterschenkel von Collin an. „Sieht richtig toll aus“, freut sich die Ärztin. Collin sitzt auf der Liege, schaut etwas verdrießlich und schnaubt. „Naja.“ Seit ein paar Wochen plagt er sich mit dem Bein. Ein offener Abszess, eine häufige Diagnose bei der Klientel von Frau Schürks.

Collin, Anfang 40, Schnauzer, vorne kurze, hinten lange Haare, ist gelernter Bergmechaniker und hat auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop geschafft, bis ihn Ende der neunziger Jahre die Sucht aus dem Sattel geholt hat. „Wenn man zu einem niedergelassenen Arzt geht, dann wird man anders behandelt. Die reden manchmal abfällig über einen. Man sollte aber nicht assi behandelt werden“, sagt Collin. Hier, im Arztmobil, ist jeder Mensch gleich. Das gefällt ihm.

Der blaue Wagen ist ein Ort zum Ausheulen

Arztmobil-Team hilft Menschen am Rand der Gesellschaft

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    Seit zwei Jahrzehnten ist das Arztmobil in Essen Anlaufstelle für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben und im System keinen richtigen Platz haben. „Hier gibt es keine Sanktionen, kein Hausverbot, man muss seinen Namen nicht nennen oder seinen Ausweis vorzeigen“, erzählt Ursula Schürks. Die Ärztin mit den grauen kurzen Haaren ist seit zwei Jahren an Bord. Die Patienten mögen ihre schnörkellose Art und dass sie ihnen mit Respekt begegnet.

    Zum Arztmobil kommen Wohnungslose, Junkies, Menschen mit anderen Suchterkrankungen. Ein Viertel hat keine Krankenversicherung, häufig sind das Leute aus Osteuropa. Sie haben Erkältungen, Probleme mit dem Magen, Hautkrankheiten, offene Wunden. Denjenigen, die krankenversichert sind, fehlt häufig das Geld für die Rezeptgebühr, auch wenn es nur fünf Euro sind. Auf der Straße wird jeder Cent gebraucht.

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    Die meisten der Patienten sind Männer. Frau Schürks ist für viele mehr als eine Ärztin, der blaue Wagen ist auch ein Ort, an dem sie sich ausheulen können. „Manche Leute sitzen hier mit Tränen in den Augen und klagen, dass sie wie Untermenschen behandelt werden.“

    Markus, „Vorname reicht“, ist schon länger heroinabhängig, als es das Arztmobil gibt. Mit 14 hat er angefangen, jetzt ist er 37. In sein blasses Gesicht hat das harte Leben Furchen gegraben, seine Hände sind geschwollen, vernarbt. Seine Stimme ist verwaschen, er schaut häufig zu Boden, sortiert sich immer wieder, spricht von den besseren, von den guten alten Zeiten: „Wenn du früher auf Turkey warst, dann biste auf Platte gegangen und hast von irgendwem ein Bubble bekommen, damit du wieder gesund wirst.“

    203 Menschen starben in NRW an einer Überdosis

    Was er damit meint: Früher war es selbstverständlich, dass ein Junkie einem anderen mit einem kleinen Päckchen Heroin aushalf, der auf Entzug war, aber gerade nicht genügend Geld für einen Schuss hat. „Heute unvorstellbar.“

    Heroin scheint in der Versenkung verschwunden. Es ist aber immer noch da. Im vergangenen Jahr starben 203 Menschen in NRW an einer Überdosis, im Jahr davor waren es 204. Wie viele Menschen in NRW heroinabhängig sind, darüber gibt es keinen genauen Überblick.

    Die Suchthilfe hat für 2016 rund 21.000 Betreuungen registriert, Durchschnittsalter: 39. Markus berichtet aber, dass in der Szene auch viele junge Leute unterwegs seien. „Die Szene wird aggressiver, der Stoff wird schlechter. Die Schwarzen strecken mit Strychnin und Diazepam.“ Es ist die Rede davon, dass sogar zerstoßene Neonröhren als Streckmittel missbraucht werden.

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    Die Sucht jagt die Abhängigen in einen Teufelskreis. Arbeitslosigkeit, Beschaffungskriminalität, Gefängnis, Wohnungslosigkeit. Markus war gerade lange weg. 10 Jahre. Seine Tochter wurde geboren, als er im Knast war. Mit sechs starb sie. „Ich habe sie nur an ihrem Grab besuchen können.“ Vorgestern ist auch noch seine Ex-Frau gestorben, sagt er, und dass er gerade auf der Straße lebt.

    Kein Schlafsack kommt gegen die Kälte an. „Ist alles Scheiße.“ In der Statistik ist er einer von rund 32.300 Menschen in NRW, die im vergangenen Jahr wohnungslos gemeldet waren. Tendenz: stark steigend. Im Jahr zuvor war es rund ein Drittel weniger. Allein 1800 Menschen haben ihre postalische Adresse beim Diakoniewerk an der Essener Lindenallee. Krankenversichert ist Markus derzeit auch nicht. Damit ist er einer von rund 18.000 in NRW.

    Teufelskreis aus Sucht, Arbeitslosigkeit, Kriminalität

    Theoretisch gibt es Anlaufstellen und Übernachtungsstellen für die Wohnungslosen und Süchtigen. In den Notunterkünften wird aber geklaut, für den Gang zum Amt fehlt oft die Kraft. Das Leben draußen ist knüppelhart, weiß Ursula Schürks. „Wenn man sich vorstellt, dass die oft 12 Stunden am Tag unterwegs sind, das ist Wahnsinn. Ich würde das nicht überleben.“ Der Tod ist in der Szene ständig präsent. An diesem Tag findet die Polizei einen von ihnen tot in einem Parkhaus in der Innenstadt. Er ist erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden und gerade einmal 55 Jahre alt geworden.

    Markus hat heute Glück. Er hat keine Lungenentzündung, wie er befürchtet hat. „Ich muss was essen, sonst gibt‘s was auf den Popo“, grinst er, als er aus dem Arztmobil rauskommt. Dann macht er sich mit einem Kumpel auf den Weg. Wenn sie was bekommen, wollen sie zum Druckraum an der Hoffnungstraße. Hier können Suchtkranke ihre Drogen in einer sicheren Umgebung konsumieren. Ist besser als draußen. Hier ist Hilfe am Mann, wenn etwas passiert. Und in der Kälte trifft man die Venen nicht gut.