Bottrop. Am Gedenktag für die Opfer der NS-Zeit, 27. Januar, zeigt die Martinskirche eine Ausstellung zum Thema Wohnungslose. So sah es in Bottrop aus.

Obdachlose, Bettlerinnen, Wanderarbeiter: Wer vor 80, 90 Jahren zu diesen Gruppen gehörte, bekam nicht nur im übertragenen Sinne das Etikett „Asozial“ verpasst. Im schlimmsten Fall wurde man verschleppt, kam in ein Lager und dort ein Dreieck auf die Kleidung genäht. Der gelbe Stern war bekanntlich den Menschen jüdischen Glaubens vorbehalten. An alle Opfer dieser Zeit, als Bezeichnungen wie „Asoziale“ oder „arbeitsscheues Gesindel“ auch vom Staat gebraucht wurden, erinnert ab dem 27. Januar, dem offiziellen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, eine Ausstellung im Martinszentrum der evangelischen Kirche.

In den 30er Jahren galten zeitweise in Bottrop über 1000 Familien de facto als obdachlos

Aber beim Elend und dessen Bekämpfung machte man schon Unterschiede. Auch in Bottrop, wo laut alter Jahrbücher und Verwaltungsprotokollen aus dem Stadtarchiv zum Beispiel im Sommer 1935 den 22.500 selbstständigen Haushalten 18.642 Wohnungen gegenüber standen. Über 1000 Familien galten de facto als obdachlos. Andere konnten zur Untermiete bei Verwandten oder in Notunterkünften eine Bleibe finden.

Die Baracken-Kolonie Hardtbusch stammt aus den 1920er Jahren. Zwischen 1961 und 1967 wurden die Bauten abgerissen und durch die neue Obdachlosensiedlung Borsigweg ersetzt.
Die Baracken-Kolonie Hardtbusch stammt aus den 1920er Jahren. Zwischen 1961 und 1967 wurden die Bauten abgerissen und durch die neue Obdachlosensiedlung Borsigweg ersetzt. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Bereits in den 1920er Jahren war die Zahl groß. Durch die Wirtschaftskrise ab 1930 hatte sich das Elend noch verstärkt. Dazu kam, dass Bottrop zu den kinderreichsten Städten im damaligen deutschen Reich zählte. 4000, also etwa 20 Prozent der Familien, hatten mehr als vier Kinder. Zwar hatte die Stadt in den 20er Jahren durch die Eirichtung der Obdachlosensiedlung Kolonie Hardtbusch (später Borsigweg) etwas Abhilfe geschaffen. Die reichte aber bei weitem nicht aus.

Ab 1933 setzte auch in Bottrop eine „gezielte Bettlerbekämpfung“ ein: Man sprach von „Asozialen“

Schon ab 1925 hat die Stadt begonnen, Bettler oder Obdachlose in den zehn Arrestzellen unter dem Rathaus unterzubringen. „Es wurden wohl nicht nur straffällig gewordene Menschen aus diesem Kreis dort ,untergebracht‘,“ wie Stadtarchivarin Heike Biskup weiß. Man konnte laut damaliger Unterlagen auch im Rathaus anfragen, um dort einige Nächte zu verbringen. Denn ab der Zeit hatte die Polizei im Neubau am heutigen Droste-Hülshoff-Platz nun ein eigenes Gefängnis.

Der Ton gegenüber und der Umgang mit Obdachlosen und Bettlern änderte sich mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 deutlich. Einerseits sprach man von „Bettlerbekämpfung“ und neuen „Arbeitsmaßnahmen“ gegenüber diesen „Asozialen“. Demgegenüber standen laut Propaganda „wertvolle, aufbaunützliche Personen, preisgegeben gesundheitlicher und sittlicher Verelendung“. Soziale Maßnahmen dienten daher vor allem der „Erhaltung dieser hochgefährdeten Volkskraft“.

Wie ein Fotoalbum aufgemacht ist die Schrift „Darstellung des Wohnungselends der Stadt Bottrop“ von 1935. Stadtarchivarin Heike Biskup hat die Dokumentation aus der Nazi-Zeit hervorgeholt.
Wie ein Fotoalbum aufgemacht ist die Schrift „Darstellung des Wohnungselends der Stadt Bottrop“ von 1935. Stadtarchivarin Heike Biskup hat die Dokumentation aus der Nazi-Zeit hervorgeholt. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Alle diese Zitate stammen entweder aus der wie ein Fotoalbum aufgemachten Schrift „Darstellung des Wohnungselends der Stadt Bottrop“ vom 1. Juli 1935 oder aus den Verwaltungs- und Jahrbüchern, die die Stadtverwaltung in jenen Jahren veröffentlichte. Was immer noch eher wenig bekannt ist: Diese so genannten „Asozialen“ wurden bereits kurz nach dem Machtantritt der NSDAP 1933 deutschlandweit verhaftet.

Bei deutschlandweiten „Bettlerrazzien“ wurden 1933 Zehntausende verhaftet

Bei diesen „Bettlerrazzien“ nahmen die neuen Machthaber im ganzen Land mehrere Zehntausend Personen fest. Viele blieben länger interniert, kamen in Lager, Führungsanstalten oder Arbeitshäuser, wurden teilweise sogar zwangssterilisiert. Grundlage dafür bildete das Gesetz zur Verhütung so genannten „erbkranken Nachwuchses“. Um diesen Teil der Geschichte geht es in der Ausstellung im Martinszentrum.

Eingang zu einer „Wohnung“ für Obdachlose in einem früheren Pferdestall. Solche Behausungen gab es in Bottrop noch in den 1920er und 30er Jahren.
Eingang zu einer „Wohnung“ für Obdachlose in einem früheren Pferdestall. Solche Behausungen gab es in Bottrop noch in den 1920er und 30er Jahren. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Von „Bettlerrazzien“ in Bottrop sei bislang nichts bekannt, auch nicht von Deportationen Obdachloser, so Heike Biskup. Aber teilweise seien auch Akten und Unterlagen durch Kriegseinwirkungen verloren gegangen. Im Melderegister sei sie jedenfalls bislang auf keinen Bottroper Fall gestoßen, so die Archivarin.

Die Wohnungslosigkeit selbst in Bottrop stellt die erwähnte Schrift drastisch dar. Zu lesen (und zu sehen) ist von großen Familien, zusammengepfercht auf wenigen Quadratmetern, in Baracken, ehemaligen Ställen oder Werkstätten. Die Kehrseite des raschen Bevölkerungswachstums, der schnellen Industrialisierung und eines Sozialsystems, das damit nicht schritthalten konnte.

Neben der Kolonie Hardtbusch, die nach dem Krieg abgerissen und zwischen 1961 und 1967 als Obdachlosensiedlung Borsigweg neu gebaut wird, waren die Lindenstraße (heute Siemensstraße), aber auch die sogenannte Feuerwerkerei im Südosten damals Schwerpunkte mit vielen Obdachlosen in prekären Unterkünften. Bereits 1936 werden die notdürftigen Behausungen an der Lindenstraße abgebrochen. Waren 1934 noch 952 Familien obdachlos, leben 1936 „nur“ noch 184 in Baracken.

Offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurde die Gruppe der verfolgten Wohnungslosen, Bettler und Wanderarbeitern vom Deutschen Bundestag erst vor fünf Jahren.

Schriften und Unterlagen zum Thema Nationalsozialismus in Bottrop gibt es im Stadtarchiv und in der Stadtbibliothek, beide im Kulturzentrum. Die Ausstellung „Wohnungslose im Nationalsozialismus“ eröffnet in der Martinskirche am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, 27. Januar. Dort findet um 18 Uhr eine Gedenkveranstaltung statt. Die Ausstellung ist bis zum 16. Februar zu sehen.