Bottrop. Kokerei-Betreiber Arcelor Mittal hat Strafantrag gegen einen Rentner wegen Hausfriedensbruchs gestellt. Ein Luftbild dient der Wahrheitsfindung.

Ungewöhnlicher Prozess vor ungewohnter Kulisse: Die Zuschauerplätze waren voll besetzt, als vor dem Bottroper Amtsgericht eine Anklage wegen Hausfriedensbruchs verhandelt wurde. Tatort: der Parkplatz der Kokerei von Arcelor Mittal. Angeblicher Straftatbestand: das Verteilen von Flugblättern und einer Mitarbeiterzeitung. Ein Mittel der Amtsrichterin zur Wahrheitsfindung: ein Luftbild von der Prosperstraße.

+++ Wollen Sie keine Nachrichten mehr aus Bottrop verpassen? Dann abonnieren Sie hier unseren WhatsApp-Kanal

Seit 1970 sei er regelmäßig vor Werkstoren zu finden, sagt der Gelsenkirchener Rentner Ortwin Herzig (71). Für die sehr linke Partei MLPD unterstützte er Arbeitskämpfe wie die Bergarbeiterproteste gegen die Schließung des Bergwerks Prosper-Haniel. „Vor den Prosper-Toren gab es nie Probleme“, sagt er. Vor dem Tor der Kokerei Prosper bisher ebenfalls nicht.

Anders am Mittag des 14. Februars dieses Jahres. Zum Schichtwechsel stand Herzig auf dem Zebrastreifen vom Parkplatz an der Kokerei und verteilte nach eigenen Angaben eine Mitarbeiterzeitung an die Beschäftigten. Ein Mitglied der Werksleitung forderte ihn auf, das Gelände zu verlassen. Als Herzig sich weigerte, rief die Werksleitung die Polizei. Die sprach Platzverweise aus. Eine Woche später stellte die Werksleitung Strafantrag. Die Verhandlung vor Amtsrichterin Beben führte jetzt tief hinein in die Frage: Was ist eigentlich Hausfriedensbruch?

Kleine Nebenhandlung: Gab es ein Hausverbot für die Kokerei?

Kleine Nebenhandlung vorweg: Hat Herzig gegen ein Hausverbot verstoßen? Hat er nicht, weil er das Verbot schriftlich hätte bekommen müssen. „Es gibt aber nichts Schriftliches“, sagt sein Verteidiger Frank Jasenski. Richterin Beben: „Womöglich liegt hier ein Missverständnis vor zur Rechtsfigur eines Hausverbotes.“

Zurück zur Frage: War es Hausfriedensbruch? Der einschlägige Paragraf 123 des Strafgesetzbuches stellt unter anderem das widerrechtliche Eindringen „in das befriedete Besitztum“ eines anderen unter Strafe sowie die Weigerung, sich nach Aufforderung daraus zu entfernen. Aber ist der Prosper-Parkplatz ein solch befriedetes Besitztum? Dieser Frage ging die Amtsrichterin unter anderem mit einem Luftbild nach.

„Ich bin nicht über den Zaun geklettert. Da kann jeder hin. “

Ortwin Herzig
zum Vorwurf des Hausfriedensbruchs

Von Hausfriedensbruch könne keine Rede sein, sagt Frank Jasenski: Der Weg zum Parkplatz führe von der Prosperstraße über eine öffentliche Straße. Eben, sagt Herzig: „Ich bin nicht über den Zaun geklettert. Da kann jeder hin.“ Das ist nicht zwingend die entscheidende Frage, sagt die Richterin, die sich eingelesen hat in einschlägige Gerichtsurteile. „Ein befriedetes Besitztum muss nicht zwingend eingefriedet sein“, also abgesperrt.

Beauftragter der Kokerei-Werksleitung hatte die Polizei gerufen

Darauf weist auch Michael Gruner hin, der als Beauftragter der Werksleitung im Februar die Polizei gerufen hatte und als Zeuge geladen war: „Der Parkplatz ist offen, aber nicht öffentlich.“ Das mag sein, sagt die Richterin. Aber war das wirklich für jeden erkennbar? Das sei nämlich eine zwingende Voraussetzung für einen Hausfriedensbruch.

Gruner verweist auf die Schilder an den Zäunen, die das Werksgelände als Privateigentum auswiesen. Wieder kommt die Satellitenaufnahme zum Einsatz. Die Richterin fordert Gruner auf: „Zeigen Sie bitte mal genau, wo die Schilder hängen.“ Selbst die Vertreterin der Staatsanwaltschaft wird später sagen: Diese Schilder reichen nicht aus als „äußerlich erkennbare Abgrenzung“.

„Pizzaflyer wollen wir dort auch nicht.“

Michael Gruner
Kokerei Prosper

Zweite kleine Nebenhandlung: Verteidiger Jasenski will vom Zeugen wissen, ob das Verteilverbot womöglich gezielt gegen die MLPD gerichtet war. Schließlich hätten andere Kundgebungen und Versammlungen etwa von Gewerkschaften auf dem Kokereigelände doch stattfinden dürfen? Ja, sagt Gruber, aber die seien auch angemeldet und genehmigt gewesen. Und nein, es sei nicht speziell um die MLPD gegangen: „Pizzaflyer wollen wir dort auch nicht.“

Am Ende, und auch das ist ungewöhnlich für einen Prozess, sind sich alle einig. Natürlich beantragt Verteidiger Jasenski Freispruch, weil sein Mandant von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht habe. Freispruch beantragt auch die Staatsanwaltschaft, weil es sich bei dem Parkplatz nicht um ein befriedetes Besitztum handele.

Und den Freispruch verkündet dann auch die Richterin: Der objektive Tatbestand des Hausfriedensbruchs sei nicht erfüllt. Eine weitere für Januar angesetzte Verhandlung gegen eine weitere Flugblattverteilerin wird deshalb nach ihrer Einschätzung gar nicht mehr stattfinden müssen.