Oberhausen. Mit rasanter Karussell-Fahrt auf der Drehbühne wird die Uraufführung von Wolfram Hölls „Nebraska“ zur genießerischen Collage aus Song-Zitaten.
Der Boss kann sich gratulieren. Mit 71 Jahren und der ihm eigenen Fitness hat es Bruce Springsteen auch noch zum Dramatiker gebracht – dank des Theaters Oberhausen. Aus dem Großen Haus, in dem 30 Gäste die Generalprobe miterleben durften, streamte zwei Stunden später „Nebraska“ von Wolfram Höll. Und der machte wenige eigene Worte – sondern ließ während 80 stimmungsvoller Minuten die Texte der einstigen „Zukunft des Rock’n’Roll“ sprechen (um noch einmal die meistzitierte Konzertrezension über den jungen Springsteen zu zitieren).
Eine rasant geschnittene Textcollage also – und das bedeutet für alle jene ein gesteigertes Vergnügen an dieser Inszenierung des jungen Teams um Regisseurin Elsa-Sophie Jach, die sattelfest sind bei den Songs des größten Sohns von Freehold, New Jersey. Denn zumal der überschwängliche Sound des jungen Springsteen erhält sich auch in Hölls pointierten Übersetzungen überraschend gut: lauter muntere Déjà-vus, angefangen mit der ersten Szene, einer chorischen Rezitation von „Used Cars“ über die unendliche Demütigung, in einem neuen Gebrauchtwagen nach Hause zu fahren, an dem noch die „Sale“-Schlange auf der Windschutzscheibe klebt.
Die Musik dazu? Ist aparterweise weder der Breitwand-Rock der E Street Band noch das spartanische Folk-Geschrammel des titelgebenden „Nebraska“-Albums. Vielmehr konterkariert Stella Sommer an Keyboards und Klavier die große amerikanische Weite und ihre meist gebrochenen Versprechen mit dunkel umflorter Romantik, die für Momente sogar nah ans Kunstlied reicht. Ein erster Appetizer dieses zurückhaltenden Soundtracks ist allerdings „If you could read my mind“, die elegante Ballade von Gordon Lightfoot – und älter als jeder in Rillen gepresste Springsteen-Song.
In Tüll, Rüschen und mit Schärpen
Beim ersten Auftritt zeigt sich das Ensemble in Tüll, Rüschen und mit Schärpen wie auf einem Abschlussball oder der Schönheitskonkurrenz in einer Mall. Die etwas dünne Handlung um einen Mord, Verfolgungsjagd und das Ausreißerpärchen Max und Mary entspinnt sich mählich, während die Sechs auf der Bühne ihr bonbonbunten Kleider ablegen. Zugleich wird aus den vorstädtischen Sperrholzfassaden das traumschöne Bühnenbild eines Karussells mit Strommast und Kneipen-Neonlicht – ein Geniestreich von Marlene Lockemann, den die gute alte Drehbühne fast ständig in Bewegung hält.
Springsteens kreiselnde Welt des Aufbruchs in die Weite – und sei’s nur bis zum nächsten Parkplatz – findet so eine dem Theater ideale Entsprechung. Dass er mit „Johnny 99“, dem Killer aus Verzweiflung, auch eine famose Mephisto-Figur komponiert hat, musste ihm allerdings erst Wolfram Höll beweisen. Lise Wolle hechelt finster-verführerisch „Triff mich heut Nacht in Atlantic City“ und fleht zum State Trooper „bitte halte mich nicht an“: Es ist die Nachtwelt des schwarz-rot-aschgrau verpackten „Nebraska“-Albums.
Gegen diese diabolische Präsenz haben es die ungleich braveren Rebellen Max (Julius Janosch Schulte) und Mary (Agnes Lampkin) naturgemäß schwerer. Henry Morales dagegen darf als State Trooper am Rande der Hysterie die Komik aus den Thriller-Konventionen kitzeln. Und Carlotta Freyer knetet und biegt das Sehnen der vergessenen Motel-Rezeptionistin zu einem köstlichen Kabinettstückchen: „Wenn Dein Herz noch einen kleinen Imbiss braucht.“
Bewundernswerte Kunst der Collage
Der Springsteen-Fan ist verdutzt und hoffentlich angenehm berührt: So sprech-gestöhnt klingt der alte Mitsing-Stampfer „Hungry Heart“ tatsächlich viel wahrhaftiger. Man muss den etwas fadenscheinigen Plot von Wolfram Hölls „Nebraska“ nicht sonderlich ernst nehmen – sollte aber seine Kunst der Collage bewundern. Er durfte ja auch aus dem Vollen schöpfen: von „Kitty’s Back“ bis zu „Tunnel of Love“.
Live auf der Bühne und etwas später im Stream
So funktioniert’s: Die Inszenierung wird live gefilmt und zwei Stunden später als Stream übertragen. Den Zugangslink verschickt das Besucherbüro nach Anmeldung, zu erreichen unter 0208 - 8578 184, montags bis freitags von 10 bis 15 Uhr. Karten gibt’s zu 15 Euro, ermäßigt 5 Euro – und zum „Sehnsuchtspreis“ von 25 Euro.Der zweite Cruise von Mary und Max gen Westen folgt am Samstag, 22. Mai, um 19.30 Uhr.
Und Stella Sommer am Klavier lässt zum Schluss Rufus Wainwright antworten, den so gekonnt auf den Zinnen des Kitsches schwelgenden Amerikaner in Berlin: „I’m so tired of America“. Nein, so hart sollte das Urteil nicht ausfallen. Man kann nach dieser 80-minütigen Bühnenfreude auch mit vertieftem Genuss seine alten Springsteen-Platten ‘rauskramen.