Oberhausen. Vom Kampf nach Liebe erzählt der junge B. B. mit Wortgewalt. Das Maskenspiel von Regisseur Jan Friedrich verliert in zwei Filmstunden an Schwung.
Aus diesem Dilemma gibt’s kein Entkommen. Was ein großer Theaterabend hätte sein können, ja müssen, macht als Bild- und Tonkonserve nur überdeutlich, wie schmerzlich dem Publikum sein Platz im Theater fehlt. Von der oft statischen Kameraführung zu den Handmikros des Ensembles, von den Farben der Scheinwerfer bis zu den Gesten der sechs groß aufspielenden Protagonisten rief alles aus diesem „Im Dickicht der Städte“: Dies ist kein Film-Drama, dies will ein Live-Erlebnis sein.
Für das Theater Oberhausen inszenierte der 29-jährige Jan Friedrich (nach Federico Garcia Lorcas „Bernarda Albas Haus“) nun den jungen Bertolt Brecht – und nennt den Stream, der leider nicht „live“ von der Bühne kommt, etwas bemüht „eine offene Probe“. Dabei steht der Perfektionismus, mit dem der junge Regisseur sich und seine Crew in die Sprach- und Bilderwelten des Expressionismus eintauchen lässt, jeglicher „Offenheit“ eher im Weg. Selbst um den etwaigen Preis ruckeliger Handkamera-Bilder hätte ein Livestream dieser Inszenierung gut getan – und das Spiel dieser starken Besetzung sicher noch mehr befeuert. Dass alle Sechs teils hinter Masken spielen, ließen sie ohnehin schnell vergessen.
„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf um die Motive dieses Kampfes“, knarzt zur Begrüßung die Brecht’sche Stimme über der von Robert Kraatz genialisch gestalteten Bühne. Nur die kleine Kamera kann durch die Kammern links und rechts eines schmalen Korridors karriolen: Klaustrophobie bestimmt das Klima „im Jahr 1912 in der Riesenstadt Chicago“. Upton Sinclairs Skandalroman „Der Dschungel“ über das Elend der Schlachthof-Arbeiter war noch bedrängend aktuell, als der gerade 24-jährige Brecht sich durch sein „Dickicht“ schlug. Doch ihm ging es nicht um Sozialkritik.
Hier bleibt niemand nur Staffage
Shlink, der Reiche und Ältere, dem Klaus Zwick mit meist leisen Nuancen die zu erwartende Doppelbödigkeit verleiht, demütigt Garga, den so jungen wie armseligen Angestellten einer Leihbücherei: Er verdiene fast nichts – „und Sie leisten sich Ansichten?“ Die müssten doch für 40, 50 Dollar zu kaufen sein. Henry Morales’ Garga stellt sich dem Kampf mit hell flammender Empörung, sucht mit bekleckertem Unterhemd im Duell der Intrigen und Windungen die physische Konfrontation.
Live gespielt – aber nicht im Livestream
Drei Kameraleute präsentieren die zweistündige Inszenierung von „Im Dickicht der Städte“. Regisseur Jan Friedrich betont zwar: „Nichts ist vorproduziert, alles live“ – doch einen Livestream erlebt das Publikum an seinen PCs und Tablets nicht. Dies geschieht vor allem aus technischen Gründen, um auch die Bilder der Handkamera im optimalen Format aufbereiten zu können.
Der Stream ist an den weiteren Aufführungstagen, 17. und 18. April, 8. und 16. Mai, 20. und 27. Juni, jeweils ganztägig abrufbar. Karten gibt’s beim Besucherbüro, 0208 8578-184, für 15 Euro, ermäßigt 5 Euro, oder zum „Sehnsuchtspreis“ von 25 Euro.
Dass gegenüber diesen beiden Protagonisten weder die von Brecht nur matt gezeichneten drei Frauenrollen verblassen noch Shlinks unverbrüchlich treuer Adlatus Skinny, der dank Daniel Rothaug mit Duracell-Power und einer fluffigen Perücke a la Roger Taylor durch die Szenen stiebt, ist der eigentliche Coup dieser Inszenierung. Hier muss sich niemand als Staffage in hinreißend trüben Dekors unter Wert verkaufen. Weder Genet Zegay als George Gargas Schwester Marie noch Elisabeth Hoppe als seine Freundin Jane zeichnen duldende Opferlämmchen: „Wir sind verruchte und zutiefst gebrochene Wesen.“ Doch die toughe Jane klagt nicht – sie höhnt: „In diesem Stück sind alle Männer schwul.“
Dies aus einem der – hübsch brechtisch-chorisch angelegten – Intermezzi, die Julienne De Muirier als junge Co-Autorin in das expressionistische „Dickicht“ gewoben hat. Allerdings ist es ein Leichtes, zumal den jungen Brecht mit seiner eigenen Rhetorik zu schlagen. „Wir machen Kunst hier!“ Immerhin schuf die B. B.-Kritikerin für Julius Janosch Schulte (perfekt besetzt als die in ihrer schäbigen Bude mondän aufleuchtende Mutter Garga) einen grandiosen Monolog komischer Verzweiflung, der alle Verächter der „Cancel Culture“ alt aussehen lassen soll: „Ich halte nichts davon, Brecht zu diffamieren“, mit schriller Stimme, „einen bekennenden Femini . . .“ Hier stockte höchst effektvoll die falsche Verteidigungsrede.
Ein Fest für die Kostümbildnerin
Derlei Verve hätte der lang und längeren letzten halben Stunde dieses 130-minütigen Liebeskampfes aufgeholfen. Genet Zegay durfte noch, mit dem Handmikrofon im dunklen Saal, ihr imaginäres Theaterpublikum einschüchtern: „Auch ich habe eine Aggression“ – und die ihr entsprechende Wortgewalt. Bereits die kanariengelbe Hochzeitsszene, ein Fest für Kostümbildnerin Vanessa Rust, führte zu freudlosem Techno-Geballer nur ins düstere Finale vor dem eisernen Vorhang.
Garga hat seinem Feind einen Lynch-Mob auf den Hals gehetzt: Unter der geschnörkelten Neonschrift „Michigansee“ lehnen beide ermattet vor der Stahlwand. „Gibt es niemals eine Verständigung jenseits der Sprache?“, fragt der gejagte Ältere nach seiner fast beiläufigen Liebeserklärung. Im Theater hätte man im Takt von Klaus Zwicks Worten geatmet. Nach zwei Stunden am Bildschirm brennen nur die Augen.