Essen/Düsseldorf. . Als Wikipedia 2001 in Deutschland an den Start gegangen ist, war nicht absehbar, dass das Online-Lexikon die Welt des Wissens verändert. An diesem Freitag gibt es eine Veränderung in eigener Sache: Erstmals gibt sich Wikipedia feste Regeln. Hinter den Kulissen herrscht mitunter Streit und Missgunst.
Menschen sind böse zueinander. So hat es der Virtual-Reality-Experte Jaron Lanier vor ein paar Jahren in einem Zeitungsinterview über das Web 2.0 gesagt und damit auch Mitwirkende an der Online-Enzyklopädie Wikipedia kritisiert: „Wie da um Formulierungen gekämpft wird (…) Diese Konflikte sind übel, hässlich und haben nichts mit zivilisiertem Umgang zu tun.“ Gut elf Jahre nach ihrem Start in Deutschland gibt sich Wikipedia ab diesem Freitag erstmals klare Verhaltensregeln. Sie sollen auch helfen, das Miteinander der Autoren künftig erträglicher zu machen.
Wenn Alice Wiegand von Wikipedia berichtet, spricht sie mit hörbarer Begeisterung: Seit sieben Jahren arbeitet die Verwaltungsbeschäftigte aus Düsseldorf ehrenamtlich an der Wikipedia mit. Anfangs als Autorin mit Fachgebiet Comics und Mangas, später sogar im Vorstand der Dachorganisation Wikimedia. „Faszinierend“, findet die 46-Jährige, dass sie Teil einer großen Vision ist, das Wissen der Welt zu sammeln und zu vernetzen. Und dass das Projekt „von so vielen Leuten getragen wird, rein aus dem Interesse an der Sache“. Doch das Interesse artet auch aus, wie Wiegand leidvoll berichtet – dann komme es zum Beispiel zu „Edit-Wars“, dem erbitterten Streit um Formulierungen: „Da haben schon einige Autoren die Lust an Wikipedia verloren“.
Wo Wikipedia noch Lücken hat
Man mag es kaum glauben, aber Wikipedia hat noch Lücken. Obwohl mittlerweile mehr als 1,4 Millionen Wissenseinträge auf den deutschen Seiten zu finden sind. Damit ist die deutschsprachige Wikipedia die zweitgrößte weltweit unter mittlerweile 280 Wikipedia-Sprachen. Im März 2001 war sie in gestartet.
Etwa 7000 „aktive“ Autoren zählt man in Deutschland - solche, die pro Woche etwa fünf Bearbeitungen („Edits“) erstellen. Dazu gibt es etwa 1000 „sehr aktive“ Wikipedianer, die mehr als 100 Bearbeitungen pro Monat schreiben. Die deutsche Wikipedia wächst täglich um etwa 400 neue Artikel, berichtet Catrin Schoneville, die für die Dachorganisation Wikimedia Deutschland das Projekt vertritt. Kann es da noch Lücken geben? Es kann: Während die Naturwissenschaften „thematisch gut abgebildet“ seien, würden etwa in den Bereichen Kunst, Kultur oder Literatur nach wie vor noch Lücken klaffen. Schoneville: „Da sagt die Community, da fehle ihnen viel“.
Wikimedia hat deshalb das Projekt „Silberwissen“ angestoßen. „Wir wollen weitere Autoren gewinnen“, besonders gerne Ältere, „wo viel Wissen brach liegt“, wie Schoneville glaubt. Dabei geben Wikipedia-Autoren und -Mentoren, unter anderem an Volkshochschulen, Einblick darin, wie man für Wikipedia arbeitet.
Wikipedia - von Männer-Überhang und Meinungs-Kriegen
Auch Autorinnen möchte man verstärkt ansprechen, erklärt Catrin Schoneville. Auch da gehe es um Inhalte: „Es fehlen viele Frauenbiografien“, erklärt die Wikimedia-Sprecherin. Berühmte Männer seien auf Wikipedia dagegen schon „ganz gut abgedeckt“. Nur zehn Prozent derer, die für Wikipedia schreiben, sind weiblich, berichtet Schoneville. Der Männer-Überhang scheint an so manchen Testosteron-geschwängerten Debatten hinter den Kulissen deutlich zu werden.
Wer auf der deutschen Wikipedia den Artikel „Kritik an Wikipedia“ studiert, stößt auf eine Kette von Dingen, die für Frust sorgen: „Verschiedene Autoren haben sich darüber beschwert, dass die Arbeit an der Wikipedia ermüdend sei, wenn es zu Konflikten komme“, heißt es. Von „sturen Benutzern mit abwegigen Ansichten“ ist die Rede, die Autoren terrorisierten. Ebenfalls für Ärger sorgten „informelle Bündnisse“ von Leuten, die damit „bestimmte Sichtweisen“ anderer unterdrückten.
Zerstörungswut und virtuelles Stalking
Stark umkämpfte Themenbereiche sind etwa Religion, Nationalsozialismus oder Homosexualität, sagt Catrin Schoneville. Dort sähen sich manche Autoren von anderen belästigt. Viele würden „nurmehr unter Pseudonym schreiben“.
Beim Blick in die Wikipedia-Statistik fällt auf, dass die die freie Online-Enzyklopädie immer wieder missbraucht und torpediert wird: Zu lesen ist etwa von Vandalismus und Zerstörungswut, von „Mülleinstellern“, auch von virtuellem „Stalking“ von Autoren. Einträge, die sich als „Unfug“ oder „Unsinn“ herausstellen, haben die internen Kontrollmechanismen in den vergangenen Jahren zigtausendfach in Gang gesetzt und ebenso oft dazu geführt, dass Beiträge und Autoren von der Seite verbannt wurden. Wie will man das verhindern?
Wikipedia mahnt ab nun zu „Höflichkeit“ und „Verantwortung“
Alice Wiegand hofft, dass Missbrauch und Stress künftig nachlassen werden. Sie sieht die neuen Nutzungsbedingungen als eine Art Appell an die Vernunft der Wikipedianer. Wiegand ist eine von 286 Administratoren der deutschen Wikipedia. Sie prüft Urheberrechtsverletzungen in Veröffentlichungen oder glättet Einträge, zu denen Beschwerden mitgeteilt werden. Was nicht korrekt ist, verschwindet von den Seiten. Denn Wiegand hat auch eine Lizenz zum Löschen.
"Verantwortung" und "Höflichkeit" sind künftig zwei der zentralen Begriffe des neuen Wikipedia-Regelwerks. Von den Mitwirkenden wird „gesetzeskonformes Verhalten“ erwartet. Und die Selbstverpflichtung, „anderen keinen Schaden zuzufügen“. Das Regelwerk ist kein Katalog aus Paragrafen und listet auch keine Konsequenzen auf, die bei Missbrauch drohen. Die neuen "Terms of Use" konzentrieren sich auf eine konstruktive Arbeit an dem Wissens-Projekt. Denn die Diskussion über Inhalte ist notwendig.
Wie man Wikipedia-Inhalte rechtlich korrekt weiter verbreitet
„Wir ermutigen Sie dazu, einen respektvollen und höflichen Umgang mit anderen in der Gemeinschaft zu pflegen, in guter Absicht zu handeln“, heißt es in dem Schriftwerk. Es ist, ganz im Stil der Sache von Wikipedia, unter kräftiger Mitwirkung der Community entstanden. Auch für passive Nutzer des Internet-Lexikons sind die neuen Nutzungsbedingungen hilfreich, hebt Alice Wiegand hervor: „Endlich wird verständlich erklärt, wie unsere Inhalte weitergenutzt werden dürfen und was man unter freien Lizenzen versteht“.
„Die penetranten Störer, die wird man sicher weiterhin nicht von ihrem Tun abhalten können“, glaubt Alice Wiegand mit Blick auf die neuen „Terms of Use“. Sie glaubt aber, dass man Störer und Zerstörer "nun leichter aus Wikipedia rauswerfen kann". Das Böse im Menschen, vor allem des anonymen Web 2.0-Nutzers, ist für Alice Wiegand ohnehin nicht der Hauptgrund, dass sie die neuen Nutzungsbedingungen für lobenswert hält: "Jeder sieht künftig auf einen Blick, was auf Wikipedia geduldet wird und was nicht“. Bis dato „musste man sich das mühsam auf den Seiten zusammensuchen“, sagt Wiegand: "Wenn es denn überhaupt irgendwo aufgeschrieben war".