Essen. . Die Essener Sprachwissenschaftlerin Ulrike Haß hat einen Sammelband herausgegeben, der die Geschichte bedeutender Lexika beleuchtet. Drängt sich die Frage auf: Wozu das alles noch – in Zeiten von Wikipedia?

Frau Professor Haß, Sie sind Herausgeberin des neuen Sammelbandes „Große Lexika und Wörterbücher Europas“. Was steht denn da drin?

Ulrike Haß: Der Band porträtiert in historischen Abhandlungen Lexika europäischer Länder. Es kommen große und kleinere Länder vor, aber auch Länder wie die Ukraine, die zeigen: Lexika haben mehr mit Macht und Politik zu tun, als man meint. Die ukrainischen mussten während der Sowjet-Ära im Exil verfasst werden, weil sie nicht konform mit der Obrigkeit waren. Auch in Frankreich um 1800 war die Zensur der Kirche mächtig, die Enzyklopädie wurde entsprechend in der Schweiz gedruckt.

Was ist der Unterschied zwischen einem Wörterbuch und einer Enzyklopädie?

Haß: Das Wörterbuch erklärt im Unterschied zum Lexikon nur die Begriffe. Das Lexikon erklärt die Dinge. Enzyklopädie ist gleichbedeutend mit einem Lexikon. Im Zeitalter des Internet verschwimmen die Begriffe, weil verschiedene Nachschlagewerke über ein- und dasselbe Portal veröffentlicht werden.

Ist der Verkauf von Lexika zurückgegangen?

Haß: Sehr deutlich. Wir müssen den Tod des Brockhaus in der Jahrhunderte alten Form beklagen. Er wurde an eine Tochterfirma von Bertelsmann verkauft, doch was aus ihm wird, ist offen. Es ist unwahrscheinlich, dass es je zu einer neuen Auflage des Brockhaus als Buch kommt.

Aber Wikipedia ist doch auch viel praktischer und kostengünstiger, als sich ein teures Lexikon ins Regal zu stellen. Wird es Lexika in 20 Jahren noch geben?

Haß: Ja. Vielleicht nicht in gedruckter Form, aber redaktionell bearbeitete Nachschlagewerke wird es immer geben. Zwischen ihnen und Wikipedia bestehen enorme Qualitätsunterschiede. Wäre Information ein Stück Fleisch, könnte man sagen, in der Enzyklopädie ist sie besser abgehangen.

Aber Bücher veralten doch schnell.

Haß: Nicht jede Information, die wir suchen, muss vor allem aktuell sein. Man sucht oft nach Personen oder Sachverhalten von vor 100 Jahren. Hier haben redaktionell ausgewählte Enzyklopädie-Beiträge einen enormen Vorteil. Im weltweiten Internet wird nicht gesteuert, zu welchen Themen wie viele Beiträge verfasst werden, die Beiträge hängen auch nur lose zusammen. Das Internet bietet eher Insel-Wissen.

Was fasziniert Sie an Lexika allgemein?

Haß: Alte Nachschlagewerke teilen uns mit, wie die Menschen früher die Welt gesehen haben. In einem deutschen Wörterbuch von 1571 steht zum Thema Afrika nur: „Die Barbarey“. Gemeint war damit nicht das, was wir heute unter Barbarei verstehen, sondern „das Fremde“. Und heutige Lexika sind auch nicht ‚objektiver‘. Man kann auch feststellen, dass die europäische Vernetzung des Wissens früher enger und direkter gewesen ist.

Wie meinen Sie das?

Haß: Erkenntnisse aus anderen Ländern wurden in den jeweiligen Landes-Lexika ausführlich wiedergegeben. Die Gelehrten beherrschten damals ja auch noch mehr Sprachen als heute. Schließlich konnten die Brüder Grimm viel mehr Sprachen als wir heute, z.B. auch Bretonisch und Baskisch.