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Sie zählt zu den meistgenutzten Quellen im Internet: Die Gründung der Online-Enzyklopädie Wikipedia hat die Online-Recherche revolutioniert. Kaum ein anderes Portal wird so oft angeklickt und zitiert. Am 15. Januar wird die Plattform zehn Jahre alt.

Wikipedia hat es geschafft. Vor genau zehn Jahren gegründet, verzeichnet die deutsche Version der Online-Enzyklopädie heute bis zu 31 Millionen Klicks täglich, gibt Auskunft in 1,2 Millionen Artikeln zu allem und jedem. Zum Vergleich: Der 30-bändige Brockhaus hat 300 000 Einträge. Die Daten für ein Referat über den Dreißigjährigen Krieg, die Ergebnisse vergangener Fussballmeisterschaften, alles ist in diesem kollektiven Wissensspeicher zu finden. Schüler, Studenten, Rentner, Journalisten, sie alle nutzen den kollektiven Wissensspeicher für ihre Zwecke.

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Doch nur wenige scheinen sich bewusst zu sein, dass Wikipedia nicht nur für seine Benutzer, sondern auch neuen Autoren frei zugänglich ist. „Erstaunlich viele Menschen schätzen die Glaubwürdigkeit von Wikipedia sehr hoch ein“, weiß Christoph Neuberger, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaften an der Universität Münster.

Eine Studie, die das Institut 2007 durchführte, zeigt, dass selbst in Medienkreisen Wikipedia inzwischen eine sehr hohe Akzeptanz genießt. „Die Vorteile sind offensichtlich“, stellt Neuberger fest. „Aufgrund der hohen Googleaffinität zählt Wikipedia bei einer Suchanfrage stets zu den ersten Treffen. Wer schnell etwas nachschauen will, landet meistens dort.“ Hinzu komme, dass nur noch wenige Haushalte, wie es früher üblich war, gedruckte Enzyklopädien im Regal stehen hätten.

Prinzip der Schwarmintelligenz

Doch nicht alles ist Gold, was glänzt. Wikipedia setzt unter anderen auf das Konzept der Schwarmintelligenz. Man geht davon aus, dass viele vieles wissen, und man in der Summe sehr nah an ein gutes Ergebnis kommt. Die Inhalte der Artikel werden fast ausschließlich von Laien online gestellt. Kaum ein Text, der nur einmal editiert wird. In vielen Fällen ändert sich der Inhalt eines Artikels wöchentlich. Das führt zu Fehlern.

Peinliche Pannen wie der von vielen Zeitungen falsch zitierte falsche x-te Vorname von Karl-Theodor zu Guttenberg sorgten für großes Aufsehen und zur Gründung von Wikiwatch. Die Arbeitsstelle, die im Studien- und Forschungsschwerpunkt „Medienrecht“ an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt angesiedelt ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu jedem Wikipedia-Artikel zahlreiche Zusatzinformationen zu liefern.

Nach Eingabe eines Stichwortes wird der passende Wikipedia-Eintrag angezeigt, und man erfährt, wie viele Autoren an diesem Artikel mitgearbeitet haben, wie oft der Eintrag geändert wurde oder wie viele Quellenangaben er enthält. Aus all diesen Daten errechnet ein Computerprogramm zu jedem Artikel eine Bewertung. Die Überlegung dabei ist: Je mehr Personen einen Artikel gelesen und bearbeitet haben, desto größer ist die Chance, dass Fehler entdeckt wurden. “Wir versuchen, die Menschen dazu anzuhalten, Informationen aus dem Netz kritischer zu hinterfragen“, sagt der Berliner Medienrechtler Johannes Weberling, einer der Gründer von Wikiwatch.

Wikiwatch fordert Transparenz

„Eins der Probleme von Wikipedia ist, dass sich bei einer Diskussion um einen Artikeln nicht diejenigen mit den richtigen Argumenten, sondern meist die größten Internetjunkies mit der größten Leidensfähigkeit durchsetzen, indem sie ihren Beitrag immer und immer wieder posten“, urteilt der Jurist.

Dennoch will Weberling das Konzept von Wikipedia nicht verurteilen. „Die Idee, Wissen transparenter und kostenlos frei zugänglich zu machen, ist gut.“ Für ihn und seine Mitarbeiter geht es deswegen vor allem um mehr Transparenz. „Es gibt immer noch zu viele, vor allem junge Menschen, die Wikipedia als Quelle nutzen ohne sich darüber bewusst zu sein, dass die Artikel von Laien stammen und deren persönliche Sichtweisen mit Vorsicht zu genießen sind“, sagt er.

Dass man mit den Informationen aus dem Portal kritisch umgehen muss, das sieht auch Christoph Neuberger von der Uni Münster. Er jedoch glaubt, dass aufgrund der kritischen Begleitdiskussion, die es von Anfang gegeben hat, die meisten Menschen sich sehr wohl bewusst sind, dass es sich hierbei vor allem um eine subjektive Sekundärquelle handelt. „In der wissenschaftlichen Arbeit wird Wikipedia die tatsächliche Recherche nie ersetzen können, auch wenn das manche Studenten so sehen“, so Neuberger. Denn prinzipiell gilt: Jeder darf schreiben, jeder einen Artikel erstellen, ändern und erweitern.

400 neue Artikel pro Tag

„Bis zu 400 neue Artikel täglich erscheinen beim deutschsprachigen Wikipedia“, sagt Catrin Schoneville, Pressesprecherin von Wikimedia Deutschland. Der Förderverein sammelt Spenden, mit Hilfe derer sich die Seite ausschließlich finanziert – allein 2010 waren es rund zwei Millionen Euro.

Schoneville erklärt, was sich seit den Anfängen der Internet-Enzyklopädie geändert hat: So sind seit einigen Jahren nicht mehr alle Texte direkt für Besucher der Seite sichtbar: Anonym erstellte Beiträge werden zunächst von so genannten „Sichtern“ durchgesehen, um Vandalismus-Artikel á la „Jetzt ist große Pause“ direkt auszusieben. Seit Mai 2008 sichten etwa 3000 Freiwillige täglich mehrere Dutzend Artikel und halten damit die Seite frei von grobem Unfug. Fachwissen müssen sie dafür nicht besitzen: Ist der Artikel formal in Ordnung, erscheint er online. Und dort bleibt er. Ungeprüft. Bis sich ein anderer Autor des Textes annimmt.

In der Regel geschieht das recht schnell - die meisten angemeldeten Autoren (die Wikipedianer, wie sie sich nennen) beobachten eine Reihe von Artikeln ihres Themengebiets und bemerken auch bald, wenn neue Texte hinzukommen. Bei Stammtischen in ganz Deutschland treffen sich die Autoren, tauschen sich aus und lernen so auch andere Experten ihres Schwerpunktes kennen.

Drei Stunden Artikelkontrolle

Rainer Halama (53) aus Dortmund besucht regelmäßig den Ruhrgebiets-Stammtisch der Wikipedia-Gemeinde. Seit fünf Jahren ist er Wikipedianer. Anfangs konzentrierte sich der gebürtige Schwabe auf südwestdeutsche frühneuzeitliche Adelshäuser, mittlerweile liegt sein Schwerpunkt auf Fotografie und der Ruhr 2010. „Auf meiner Beobachtungsseite stehen alle Artikel, die ich geschrieben und bearbeitet habe“, sagt Halama. Drei Stunden täglich kontrolliert er Rechtschreibung, Grammatik und Aufbau des Artikels. Auch die Fakten prüft er nach: „Ich schaue mir zum Beispiel an, ob alle Quellenangaben stimmen und aktuell sind.“

Die Verlässlichkeit von Wikipedia-Einträgen schätzt er hoch ein: „Es gibt keinen Artikel, der unbeobachtet bleibt.“ Immerhin. Was die Autoren qualifiziert, bleibt allerdings offen. Vom Professor bis zum Hobbyhistoriker ist alles vertreten. Und: Wer lange dabei ist, viel schreibt und damit nicht negativ auffällt, genießt Vertrauen in der Wikipedia-Gemeinde. Seine Artikel werden weniger intensiv geprüft, nach dem Motto: Wird schon stimmen, wenn er das schreibt.

Insgesamt aber haben sich die Regeln seit den Anfangszeiten der Internet-Enzyklopädie deutlich

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verschärft, sagt Wikipedianer Raimond Spekking aus Köln. Der 47-Jährige IT-Berater ist Autor, Sichter und einer der 300 gewählten Administratoren der Internet-Enzyklopädie. Seit 2003 investiert er wie Halama Stunden seiner Tage in die Arbeit am gemeinschaftlichen Wissensprojekt. Er prüft und verbessert nicht nur, er kann auch ganze Artikel löschen.

Ist ein Artikel zur Löschung vorgeschlagen – und das kann jeder tun - wird sieben Tage lang in der Gemeinschaft diskutiert, ob der Text relevant ist, gut genug geschrieben, etc. Anhand eines Kriterienkatalogs und der Argumente entscheidet der Administrator, den Artikel zu löschen oder im Netz zu belassen. „Ich lösche allerdings nur Sachen, die ganz klarer Blödsinn sind, wie: ,Peter ist doof’“, sagt Spekking. Außerdem sperrt er Benutzer, die solche Nonsens-Artikel anlegen oder andere Texte verunzieren.

Inhalt Verhandlungssache?

Bei manchen Artikeln ist Vandalismus gar nicht mehr möglich, denn sie sind geschützt. Manchmal dauerhaft, wie der über Angela Merkel. Manchmal nur für einige Tage. Das passiert, wenn ein so genannter „Edit War“ ausgebrochen ist, ein Krieg der Positionen. Dann werden Artikel geändert und wieder zurückgeändert, ohne, dass die verschiedenen Autoren zu einem Konsens darüber kommen, was im Text stehen sollte. „Dann sperre ich den Artikel und setze ihn auf die Version vor dem Edit War zurück.“ Der Artikel bleibt so lange geschützt, bis in der Diskussion auf der dahinterliegenden Seite ein Kompromiss ausgehandelt ist.

Wieder drängt sich hier die Frage auf, wie viel Wahrheit in Wikipedia-Artikeln stecken kann, wenn der Inhalt Verhandlungssache zu sein scheint. Obwohl überzeugter Wikipedianer, sieht auch Raimond Spekking das Problem. Seit den Anfängen der Seite habe sich die Qualität der Seite zwar erheblich verbessert: „Früher konnte ein Artikel bestehen aus: ,Die Nordsee ist ein Meer.’ Das ginge heute nicht mehr.“ Es existiert mittlerweile ein ausgefeilter Kriterienkatalog dazu, wie ein guter Artikel auszusehen hat.

Andererseits bleibt Fakt: Jeder kann alle Artikel verändern. Manche Eingriffe werden schneller übernommen als die Wikipedia-Gemeinde reagieren kann – siehe der falsche „Wilhelm“ in der Vornamenschlange des Ministers zu Guttenberg.

Deshalb tourt Raimond Spekking durch NRW und erklärt Schülern, wie sie Wikipedia am besten nutzen können. „Ich sage ihnen: ,Vertraut Wikipedia nicht!’ und rate dazu, genau hinzugucken, statt ungeprüft etwas zu übernehmen.“ Spekking liebt es, den Menschen freies Wissen zur Verfügung zu stellen und ihnen damit zu helfen. „Letztlich ist Wikipedia aber immer nur der Anfang einer Informationssuche.“