Witten. . Martin Geck hat noch mit Wagners gefürchteter Schwiegertochter Winifred Bekanntschaft gemacht. Da war er ein junger Musikwissenschaftler und benötigte aus Bayreuth die Originale der Partituren. Heute blickt er als erfahrener Forscher auf das Phänomen Richard Wagner. Ein Gespräch zum 200. Geburtstag des Komponisten.
Ein Leben lang hat den Musikwissenschaftler Martin Geck das Werk Richard Wagners (1813-1883) beschäftigt. Geck lernte noch Wagners Schwiegertochter Winifred kennen, forschte und schrieb über den berühmten wie umstrittenen Komponisten. Lars von der Gönna besuchte den emerierten Professor. Das Gespräch über Winifred, rätselhafte Kommoden und den Mut, maßlos zu sein, ist der Auftakt einer Reihe von Texten, die in unserer Zeitung zum 200. Geburtstag Wagners erscheinen.
Lassen Sie uns in die Zeitmaschine steigen. Sie waren Ende 20, da standen Sie als junger Wagner-Forscher in Bayreuth vor der berühmt-berüchtigten Winifred Wagner.
Martin Geck: Ja, da stand sie und empfing einen. Ganz natürlich wirkte sie, gar nicht hoheitsvoll. Doch dann war es genauso, wie man es sich vorstellt. Es gab keinen Zweifel an ihrer Sympathie für Hitler und den NS-Staat. „Sicher, manches war zu extrem, Herr Doktor“, sagte sie zu mir, „aber so ganz und gar verdammen kann man das doch nicht.“
„Wagners Werk gehörte quasi zu Winifreds Hausrat“
An der damaligen Herrin in Haus Wahnfried kam offenbar keiner vorbei, der ins Archiv wollte.
Geck: Genau. Für die Gesamtausgabe der Werke Wagners brauchte ich die Handschriften. Die ließ sie mir durch ihre Archivarin Frau Strobel aushändigen. Ich kam immer mit Blumen, das ging sehr gut. Es gab keinerlei Tresor oder dergleichen. Wagners Werk gehörte quasi zu Winifreds Hausrat. Wenn man etwas geklaut hätte, wäre das vermutlich Jahre lang nicht aufgefallen. Das war aber nicht meine Art.(lacht)
Auch interessant
Sie gelten als wichtiger Biograf und Forscher. Wer ist Richard Wagner?
Geck: Stellen Sie sich eine Kommode mit vielen Schubladen vor, darin vielleicht ein paar Geheimfächer, von denen bis heute noch nicht alle gefunden sind, dann sind wir bei Richard Wagner: Sie ziehen eine Schublade auf und sehen einen um Liebe bettelnden Ehemann, oder einen anhänglichen Freund. In einer anderen erblicken Sie einen von sich und seiner Sendung besessenen Egomanen ohne jede Rücksicht. Einen Antisemiten. Und so weiter.
„Ohne Wagners Vorbild hätten die Nachfolger nicht komponieren können“
Stellt man sich die Musikgeschichte als Bauwerk vor, könnte man vielleicht ein paar Komponisten-Steine herausziehen, ohne dass gleich alles zusammenkracht. Aber den Stein Wagner...
Geck: ...könnte man nicht aus dem Gebäude ziehen. Das Ganze würde zusammenstürzen. Die Nachfolger wussten, dass sie ohne Wagners Vorbild nicht hätten komponieren können, wie es ihnen gelungen ist. Das gilt für Strauss und Mahler ebenso wie für den „Neutöner“ Schönberg, obwohl der, wie auch Mahler, jüdischer Herkunft war.
Warum gibt es dennoch so viele Wagner-Hasser?
Geck: Das liegt an seiner Maßlosigkeit. Manche Hörer finden Wagner unverschämt in der tieferen Bedeutung des Wortes. Sie sind von seiner Musik nicht nur überwältigt, fühlen sich vielmehr vergewaltigt. Wagner selbst hätte das anders gesehen und gesagt: „Ich verausgabe mich in meiner Musik bis ins Letzte – was soll daran schlecht sein? Ich muss mir nicht die Gefühle verkneifen wie mein Kollege Brahms. Von Triebunterdrückung halte ich nichts. Die musikalische Kunst ist als solche schon differenziert genug, da darf ich alle meine Fantasien gern auspacken.“
„Ein empfindliches künstlerisches Gewissen“
Macht Wagner das einzigartig?
Geck: Starke Sinnlichkeit ist ganz sicher seine besondere Potenz. So etwas Direktes, Unmittelbares und bei aller Kunst doch Unverstelltes gibt es in der Oper nur ganz selten. Zwar blickt auch Verdi in menschliche Abgründe, aber Wagner holt noch mutiger das Unbewusste an die Oberfläche. Denken Sie nur an „Parsifal“: Welche untergründigen Leiden werden da zur Schau gestellt – mittels einer unglaublich reichhaltigen Palette musikalischer Farben. Das ist natürlich nicht „spontan“ erfunden, sondern Ergebnis eines lebenslangen Ringens um den „Ton“, der zum jeweiligen Thema passt. Also nicht nur Ego-Pflege, sondern auch ein empfindliches künstlerisches Gewissen.
Auch interessant
„Wagalaweia wogende Welle“: Wagners Opernsprache ist ein Kapitel für sich. Warum wollte er alles selber machen?
Geck: Wagner betrachtete seine Werke als Bekenntnisse. Und das eigene Bekenntnis spricht man erst einmal aus, ehe man es in Töne setzt. Mozart und Verdi sahen sich nicht als Kunstpropheten, sondern „nur“ als Musiker; deshalb konnten sie fremde Texte vertonen. Wagner hätte das als Verrat an seinen eigenen Ideen betrachtet.
„Es gibt bei Wagner kaum einen Helden ohne Brüche“
Wagner wird in viele Schablonen gepresst: etwa, dass seine Opern Heldenschmieden seien.
Geck: Das ist sehr oberflächlich gesehen. Es gibt bei Wagner kaum eine Figur, die nicht Brüche oder Risse hätte, auch Siegfried und erst recht der Gott Wotan sind höchst zweifelhafte Heldengestalten. Im gegenwärtigen Regietheater wird das fast schon übertrieben dargestellt.
Beide Figuren sind im längsten musikalischen Drama aller Zeiten zuhause: dem „Ring des Nibelungen“.
Geck: Der „Ring“ ist Wagners politischstes Werk. Er ist einerseits zeitlos, andererseits hochaktuell. Wenn Sie heute ein international hochkarätiges Symposion veranstalten würden über das Thema „Liebe und Macht“ und würden laden: einen Psychologen, einen Politiker, einen Philosophen, meinetwegen auch einen Erotik-Forscher. Was die herausfinden würden, es wäre nicht mehr als schon im „Ring“ gesagt ist. Im „Ring“ ist Wagner nicht nur stark in der Musik, sondern auch in den Ideen.
„Man muss sich darauf einlassen“
Wer mit Wagner auf Kriegsfuß steht, nörgelt über die Länge.
Geck: Man muss sich darauf einlassen. Wer das nicht will, findet berechtigten Anlass zur Kritik. Auch mir werden der 2. Akt „Lohengrin“ oder der letzte Abend des „Rings“ manchmal etwas lang.
Wodurch werden die Wagner-Fans belohnt?
Geck: Musik ist für uns immer dann von Belang, wenn sie etwas abruft, das schon in uns schlummert, das nur geweckt werden will. Doch da sind die Hörertypen sicher verschieden. Wer jedoch offen für Wagner ist, den erwartet ein ungeheurer musikalischer Reichtum. Wer ihn hört, darf keine Angst vor extremen Gefühlslagen haben. Und Neulinge sollten vielleicht lieber beim „Fliegenden Holländer“ als bei „Tristan und Isolde“ einsteigen.
Martin Gecks neues Buch („Wagner“, Siedler, 416 S., 24,99 €) ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Komponisten. Kenner werden es als überaus reichen Schatz aus Fakten und Reflexionen zu schätzen wissen. Für Einsteiger empfiehlt sich wohl eher Martin Gecks handliche Rowohlt-Monographie „Richard Wagner“, 190 S., 8,99€.