Mit Liao Yiwu geht der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr an den Mann, der sich selbst als „Aufnahmegerät der Zeit“ definiert. „Die Kugel und das Opium“, sein neuer Interview-Band, gibt Opfern und Zeugen des Massakers von 1989 auf dem Tian’Anmen-Platz eine Stimme.

Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ist im Westen weit bekannter als in China. Viele Ältere wollen nichts mehr davon hören, es möchte gefährlich sein; viele Jüngere haben noch nie davon gehört, das offizielle China schweigt das Thema durchschlagend tot.

Also: Anfang Juni 1989 schlug die Armee dort, mitten in Peking, Studentenproteste für mehr Freiheit und Parteireformen nieder; eine unbekannte Zahl von Menschen wurde getötet, Schätzungen nennen bis zu 3000, und noch viel mehr verschwanden in Gefängnissen.

Einige bis heute.

Liao Yiwu lebt heute in Berlin

Der Chinese Liao Yiwu (54), der seine Heimat 2011 verließ und heute in Berlin lebt, wird am Sonntag in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, was ungewöhnlich ist für jemanden, der sich selbst als „Aufnahmegerät der Zeit“ definiert. Doch so hat er schon gearbeitet für sein 2009 erschienenes Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, eine Reihe von Gesprächen mit einfachsten Leuten, China von unten.

Das Tiananmen-Massaker

Peking im Juni 1989: Gewaltsam zerschlägt das chinesische Militär die pro-demokratischen Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Peking im Juni 1989: Gewaltsam zerschlägt das chinesische Militär die pro-demokratischen Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens. © AFP
Wochenlang hatten hunderttausende Studenten friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) demonstriert und demokratische Reformen gefordert.
Wochenlang hatten hunderttausende Studenten friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) demonstriert und demokratische Reformen gefordert. © AFP
Begonnen hatten die Proteste Mitte April mit öffentlichen Trauerbekundungen zum Tod des Reformpolitikers Hu Yaobang.
Begonnen hatten die Proteste Mitte April mit öffentlichen Trauerbekundungen zum Tod des Reformpolitikers Hu Yaobang. © AFP
Weil ein Staatsbesuch des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow ansteht, sind zahlreiche ausländische Journalisten in der Stadt, die in aller Welt über die Proteste der Dissidenten berichten.
Weil ein Staatsbesuch des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow ansteht, sind zahlreiche ausländische Journalisten in der Stadt, die in aller Welt über die Proteste der Dissidenten berichten. © AFP
Am 13. Mai 1989 treten mehrere hundert Studenten in einen Hungerstreik, die chinesische Regierung ruft kurz darauf den Ausnahmezustand für Peking aus. Die Demonstranten - hier auf einem Foto vom 30. Mai - fordern die Freiheit ...
Am 13. Mai 1989 treten mehrere hundert Studenten in einen Hungerstreik, die chinesische Regierung ruft kurz darauf den Ausnahmezustand für Peking aus. Die Demonstranten - hier auf einem Foto vom 30. Mai - fordern die Freiheit ... © AFP
... und errichten nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue die
... und errichten nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue die "Göttin der Demokratie". © AFP
Mit Holzstöcken ...
Mit Holzstöcken ... © AFP
... oder gänzlich unbewaffnet stellen sich die Studenten den Soldaten entgegen, ...
... oder gänzlich unbewaffnet stellen sich die Studenten den Soldaten entgegen, ... © AFP
... die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni mit Schützenpanzern und scharfer Munition anrücken.
... die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni mit Schützenpanzern und scharfer Munition anrücken. © AFP
Die
Die "Volksbefreiungsarmee" schlägt die friedlichen Forderungen nach Freiheit blutig nieder. © AFP
Wie viele Menschen sterben, ist unklar.
Wie viele Menschen sterben, ist unklar. © AFP
Offiziell ist von knapp 300 Getöteten die Rede, ...
Offiziell ist von knapp 300 Getöteten die Rede, ... © AFP
... Menschenrechtler gehen indes von mehreren Tausend Todesopfern aus.
... Menschenrechtler gehen indes von mehreren Tausend Todesopfern aus. © AFP
Was der Welt als Tiananmen-Massaker im Gedächtnis bleibt, wird von der chinesischen Regierung als
Was der Welt als Tiananmen-Massaker im Gedächtnis bleibt, wird von der chinesischen Regierung als "politischer Zwischenfall" verharmlost. © AFP
20 Jahre nach den blutigen Unruhen weiß die Mehrheit der chinesischen Studenten mit dem Massaker nichts mehr anzufangen.
20 Jahre nach den blutigen Unruhen weiß die Mehrheit der chinesischen Studenten mit dem Massaker nichts mehr anzufangen. © AFP
Vor dem Jahrestag steht die chinesische Regierung jedoch noch immer massiv in der Kritik, sie würde die Erinnerung an die Unruhen unterdrücken.
Vor dem Jahrestag steht die chinesische Regierung jedoch noch immer massiv in der Kritik, sie würde die Erinnerung an die Unruhen unterdrücken. © AP
In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Regierung zahlreiche Internetseiten - etwa YouTube, Twitter und das Fotoportal Flickr - sowie Tausende Blogs sperren lassen.
In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Regierung zahlreiche Internetseiten - etwa YouTube, Twitter und das Fotoportal Flickr - sowie Tausende Blogs sperren lassen. © AFP
Noch immer leiden Regierungskritiker unter Repressalien: Bao Tong (76) hat die vergangenen 20 Jahre in Haft, unter Hausarrest oder unter anderen Einschränkungen verbracht. Zwischen 20 und 300 Regierungskritiker sitzen heute Schätzungen zufolge noch immer in China in Haft.
Noch immer leiden Regierungskritiker unter Repressalien: Bao Tong (76) hat die vergangenen 20 Jahre in Haft, unter Hausarrest oder unter anderen Einschränkungen verbracht. Zwischen 20 und 300 Regierungskritiker sitzen heute Schätzungen zufolge noch immer in China in Haft. © AFP
Soldaten in Zivil (hier ein Foto vom 15. Mai dieses Jahres) überwachen in diesen Tagen den Platz des Himmlischen Friedens. Fotografen und Kameraleute dürfen den Platz nur mit einem besonderen
Soldaten in Zivil (hier ein Foto vom 15. Mai dieses Jahres) überwachen in diesen Tagen den Platz des Himmlischen Friedens. Fotografen und Kameraleute dürfen den Platz nur mit einem besonderen "Passierschein" betreten. © AP
Öffentliche Gedenkfeiern anlässlich des Jahrestages wird es in China nicht geben.
Öffentliche Gedenkfeiern anlässlich des Jahrestages wird es in China nicht geben. © AFP
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So hat er es jetzt wieder gemacht: „Die Kugel und das Opium“ enthält 14 Interviews, die Liao Yiwu unter konspirativen Umständen führte mit Arbeitern, die in die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens verwickelt waren. Als einfache Passanten, als spontane Demonstranten, angelockt vom Massenereignis wochenlangen, patriotischen, friedlichen Protests. Gorbatschow war in der Stadt, westliche Medien.

Dann reisten sie ab. Dann schoss die Armee.

"Szenen wie in der Hölle"

Und die Männer wurden von einer willfährigen Justiz aus der Zeit genommen. Groteske Vorwürfe wurden erhoben, Prozesskarikaturen anberaumt, es folgten Jahre im Gefängnis einer Diktatur: „Sie haben mich fertiggemacht, ich hatte Blut im Urin, aus meinen Fingern tropfte Blut, ich sah aus wie ein Toter“, erinnert sich einer von ihnen.

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Ein anderer: „Ich bin nacheinander im Fuxing- und im Kinderkrankenhaus gewesen, ich habe dutzende von blutüberströmten Leichen gesehen. Das waren Szenen wie in der Hölle, und vor den Mauern die Salven.“ Das ist über 432 Seiten nicht ohne Anstrengung zu lesen. , und ein gewisses Interesse an dem Land ist hilfreich. Aber spannend und hochinteressant ist es, präsentiert sich doch China dem oberflächlichen Besucher zunächst als eine Art Sonnenschein-Diktatur.

Dagegen steht die Lebenswirklichkeit dieser Männer, die nach den Strafen oft keine Familien mehr hatten, keine Arbeit mehr fanden und, das Schlimmste: von ihrer Umgebung nach der Entlassung nicht mehr verstanden wurden. „Was, sagst du, war auf dem Platz des Himmlischen Friedens?“ Doch nun erscheint dieses Buch mit den Zeitzeugen auf Taiwan auch in chinesischer Sprache. Von dort aus wird es in geringer Zahl auch aufs Festland sickern, wie das kritischen Biographien von Mao Tse-Tung auch gelang.

Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. S. Fischer, 432 S., 24,99 Euro