Berlin. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 war für Liao Yiwu eine Zäsur. Nun legt der Literat ein bewegendes Buch zu den Geschehnissen vor.
Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 war für Liao Yiwu eine Zäsur: Auch wenn er als "Konterrevolutionär" schon vorher auf der schwarzen Liste der chinesischen Behörden stand, auch wenn er bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz gar nicht dabei war - die vierjährige Haft, zu der er 1990 wegen Veröffentlichung eines regimekritischen Gedichts verurteilt wurde, ließ sein Leben komplett aus den Fugen geraten. Für sein neues Buch hat der 54-Jährige mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen. Er habe noch Glück gehabt, sagten sie ihm - nicht nur im Verhältnis zu den Opfern, auch im Verhältnis zu den Überlebenden.
Das Tiananmen-Massaker
Liao, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, wurde inhaftiert, als seine Tochter ein halbes Jahr alt war. Vier Jahre später erkannte sie ihn nicht wieder. Seine Ehe ging in die Brüche, er kam herunter, lebte auf der Straße, von der Hand in den Mund. Erst nach einiger Zeit gelang es ihm, wieder Fuß zu fassen. Die Idee zu dem Buch, das jetzt unter dem Titel "Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens" erscheint, war eines der Dinge, die ihm Halt gaben. Viele Jahre lang war Liao auf der Suche nach Überlebenden des Massakers, nach Angehörigen der Opfer. Einer reichte ihn an den nächsten weiter. Insgesamt 15 Schicksale - sein eigenes inklusive - hat er aufgeschrieben.
Vater wurde zum Verräter
Zum Beispiel das des Malers Wu Wenjian, der in der fraglichen Nacht auf dem Platz des Himmlischen Friedens war und später zu siebenjähriger Haft verurteilt wurde. Zunächst war ihm die Flucht gelungen, sein eigener Vater verriet seinen Aufenthaltsort an die Behörden. "Glaube an die Regierung, Glaube an die Partei, das ist mein Vater", erzählt Wu. Wu, 1989 erst 19 Jahre alt, war kein Student und galt nicht als "Politischer"; im Gefängnis wurde er als Rowdy und Unruhestifter behandelt.
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Mit großer Verbitterung stellt er fest, dass Leute wie er in der Weltöffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden und werden, dass man sie auch im Ausland einfach vergessen hat. Oder Li Hai, aus politischen Gründen mit Unterbrechung insgesamt neun Jahre in Haft: "In diesen neun Jahren hat sich die Gesellschaft von Grund auf verändert, wenn ich auf die Straße gehe, weiß ich nicht mehr, wo ich bin", stellt er im Gespräch mit Liao fest.
Liste mit Namen von Todesopfern
Das Gefühl der Verlorenheit nach der Haft, der Heimatlosigkeit, das ist eines der großen Themen in Liaos Buch. Seine Gesprächspartner schildern nicht nur ihre Erlebnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens und während der Haft, sondern auch den schwierigen, in vielen Fällen unmöglichen Weg zurück in ein normales Leben. Oft sind die Familienbande zerstört oder von gegenseitigem Misstrauen geprägt, Freundschaften zerbrochen, eine berufliche Zukunft verbaut. Nicht alle von Liao Interviewten sind gefoltert oder misshandelt worden.
Durch das Buch sind ihre Namen festgeschrieben
Aber die meisten kämpften noch heute um ihre Existenz, sagt der Autor im dapd-Interview. "Ich bin mir sicher, wenn mein Buch eines Tages auch in China veröffentlicht werden könnte, würden sehr viele Leser sehr überrascht sein", betont er. "Keiner kann erkennen, welchen Preis die Opfer für ihren Kampf um Gerechtigkeit bezahlt haben... Dass sie vergessen sind, tut ihnen nochmals sehr weh. Durch das Buch sind ihre Namen jetzt festgeschrieben, weltweit."
Erinnerung wachhalten
Die Erinnerung wachhalten an das, was vor 23 Jahren geschehen ist, darum geht es Liao. Im Anhang seines Buches listet er die Namen von 202 Todesopfern des Massakers auf. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, Schätzungen zufolge starben damals 2.000 bis 3.000 Menschen. Dass es in China inzwischen eine ganze Generation gibt, die über die Ereignisse Anfang Juni 1989 gar nichts weiß, ist für ihn besonders bitter. ("Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", S. Fischer, ISBN 978-3-10-044815-6, 24,99 Euro) (dapd)