Berlin. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 war für Liao Yiwu eine Zäsur. Nun legt der Literat ein bewegendes Buch zu den Geschehnissen vor.

Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 war für Liao Yiwu eine Zäsur: Auch wenn er als "Konterrevolutionär" schon vorher auf der schwarzen Liste der chinesischen Behörden stand, auch wenn er bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz gar nicht dabei war - die vierjährige Haft, zu der er 1990 wegen Veröffentlichung eines regimekritischen Gedichts verurteilt wurde, ließ sein Leben komplett aus den Fugen geraten. Für sein neues Buch hat der 54-Jährige mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen. Er habe noch Glück gehabt, sagten sie ihm - nicht nur im Verhältnis zu den Opfern, auch im Verhältnis zu den Überlebenden.

Das Tiananmen-Massaker

Peking im Juni 1989: Gewaltsam zerschlägt das chinesische Militär die pro-demokratischen Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Peking im Juni 1989: Gewaltsam zerschlägt das chinesische Militär die pro-demokratischen Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens. © AFP
Wochenlang hatten hunderttausende Studenten friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) demonstriert und demokratische Reformen gefordert.
Wochenlang hatten hunderttausende Studenten friedlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) demonstriert und demokratische Reformen gefordert. © AFP
Begonnen hatten die Proteste Mitte April mit öffentlichen Trauerbekundungen zum Tod des Reformpolitikers Hu Yaobang.
Begonnen hatten die Proteste Mitte April mit öffentlichen Trauerbekundungen zum Tod des Reformpolitikers Hu Yaobang. © AFP
Weil ein Staatsbesuch des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow ansteht, sind zahlreiche ausländische Journalisten in der Stadt, die in aller Welt über die Proteste der Dissidenten berichten.
Weil ein Staatsbesuch des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow ansteht, sind zahlreiche ausländische Journalisten in der Stadt, die in aller Welt über die Proteste der Dissidenten berichten. © AFP
Am 13. Mai 1989 treten mehrere hundert Studenten in einen Hungerstreik, die chinesische Regierung ruft kurz darauf den Ausnahmezustand für Peking aus. Die Demonstranten - hier auf einem Foto vom 30. Mai - fordern die Freiheit ...
Am 13. Mai 1989 treten mehrere hundert Studenten in einen Hungerstreik, die chinesische Regierung ruft kurz darauf den Ausnahmezustand für Peking aus. Die Demonstranten - hier auf einem Foto vom 30. Mai - fordern die Freiheit ... © AFP
... und errichten nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue die
... und errichten nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue die "Göttin der Demokratie". © AFP
Mit Holzstöcken ...
Mit Holzstöcken ... © AFP
... oder gänzlich unbewaffnet stellen sich die Studenten den Soldaten entgegen, ...
... oder gänzlich unbewaffnet stellen sich die Studenten den Soldaten entgegen, ... © AFP
... die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni mit Schützenpanzern und scharfer Munition anrücken.
... die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni mit Schützenpanzern und scharfer Munition anrücken. © AFP
Die
Die "Volksbefreiungsarmee" schlägt die friedlichen Forderungen nach Freiheit blutig nieder. © AFP
Wie viele Menschen sterben, ist unklar.
Wie viele Menschen sterben, ist unklar. © AFP
Offiziell ist von knapp 300 Getöteten die Rede, ...
Offiziell ist von knapp 300 Getöteten die Rede, ... © AFP
... Menschenrechtler gehen indes von mehreren Tausend Todesopfern aus.
... Menschenrechtler gehen indes von mehreren Tausend Todesopfern aus. © AFP
Was der Welt als Tiananmen-Massaker im Gedächtnis bleibt, wird von der chinesischen Regierung als
Was der Welt als Tiananmen-Massaker im Gedächtnis bleibt, wird von der chinesischen Regierung als "politischer Zwischenfall" verharmlost. © AFP
20 Jahre nach den blutigen Unruhen weiß die Mehrheit der chinesischen Studenten mit dem Massaker nichts mehr anzufangen.
20 Jahre nach den blutigen Unruhen weiß die Mehrheit der chinesischen Studenten mit dem Massaker nichts mehr anzufangen. © AFP
Vor dem Jahrestag steht die chinesische Regierung jedoch noch immer massiv in der Kritik, sie würde die Erinnerung an die Unruhen unterdrücken.
Vor dem Jahrestag steht die chinesische Regierung jedoch noch immer massiv in der Kritik, sie würde die Erinnerung an die Unruhen unterdrücken. © AP
In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Regierung zahlreiche Internetseiten - etwa YouTube, Twitter und das Fotoportal Flickr - sowie Tausende Blogs sperren lassen.
In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Regierung zahlreiche Internetseiten - etwa YouTube, Twitter und das Fotoportal Flickr - sowie Tausende Blogs sperren lassen. © AFP
Noch immer leiden Regierungskritiker unter Repressalien: Bao Tong (76) hat die vergangenen 20 Jahre in Haft, unter Hausarrest oder unter anderen Einschränkungen verbracht. Zwischen 20 und 300 Regierungskritiker sitzen heute Schätzungen zufolge noch immer in China in Haft.
Noch immer leiden Regierungskritiker unter Repressalien: Bao Tong (76) hat die vergangenen 20 Jahre in Haft, unter Hausarrest oder unter anderen Einschränkungen verbracht. Zwischen 20 und 300 Regierungskritiker sitzen heute Schätzungen zufolge noch immer in China in Haft. © AFP
Soldaten in Zivil (hier ein Foto vom 15. Mai dieses Jahres) überwachen in diesen Tagen den Platz des Himmlischen Friedens. Fotografen und Kameraleute dürfen den Platz nur mit einem besonderen
Soldaten in Zivil (hier ein Foto vom 15. Mai dieses Jahres) überwachen in diesen Tagen den Platz des Himmlischen Friedens. Fotografen und Kameraleute dürfen den Platz nur mit einem besonderen "Passierschein" betreten. © AP
Öffentliche Gedenkfeiern anlässlich des Jahrestages wird es in China nicht geben.
Öffentliche Gedenkfeiern anlässlich des Jahrestages wird es in China nicht geben. © AFP
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Liao, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, wurde inhaftiert, als seine Tochter ein halbes Jahr alt war. Vier Jahre später erkannte sie ihn nicht wieder. Seine Ehe ging in die Brüche, er kam herunter, lebte auf der Straße, von der Hand in den Mund. Erst nach einiger Zeit gelang es ihm, wieder Fuß zu fassen. Die Idee zu dem Buch, das jetzt unter dem Titel "Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens" erscheint, war eines der Dinge, die ihm Halt gaben. Viele Jahre lang war Liao auf der Suche nach Überlebenden des Massakers, nach Angehörigen der Opfer. Einer reichte ihn an den nächsten weiter. Insgesamt 15 Schicksale - sein eigenes inklusive - hat er aufgeschrieben.

Vater wurde zum Verräter

Zum Beispiel das des Malers Wu Wenjian, der in der fraglichen Nacht auf dem Platz des Himmlischen Friedens war und später zu siebenjähriger Haft verurteilt wurde. Zunächst war ihm die Flucht gelungen, sein eigener Vater verriet seinen Aufenthaltsort an die Behörden. "Glaube an die Regierung, Glaube an die Partei, das ist mein Vater", erzählt Wu. Wu, 1989 erst 19 Jahre alt, war kein Student und galt nicht als "Politischer"; im Gefängnis wurde er als Rowdy und Unruhestifter behandelt.

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Mit großer Verbitterung stellt er fest, dass Leute wie er in der Weltöffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden und werden, dass man sie auch im Ausland einfach vergessen hat. Oder Li Hai, aus politischen Gründen mit Unterbrechung insgesamt neun Jahre in Haft: "In diesen neun Jahren hat sich die Gesellschaft von Grund auf verändert, wenn ich auf die Straße gehe, weiß ich nicht mehr, wo ich bin", stellt er im Gespräch mit Liao fest.

Liste mit Namen von Todesopfern

Das Gefühl der Verlorenheit nach der Haft, der Heimatlosigkeit, das ist eines der großen Themen in Liaos Buch. Seine Gesprächspartner schildern nicht nur ihre Erlebnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens und während der Haft, sondern auch den schwierigen, in vielen Fällen unmöglichen Weg zurück in ein normales Leben. Oft sind die Familienbande zerstört oder von gegenseitigem Misstrauen geprägt, Freundschaften zerbrochen, eine berufliche Zukunft verbaut. Nicht alle von Liao Interviewten sind gefoltert oder misshandelt worden.

Durch das Buch sind ihre Namen festgeschrieben

Aber die meisten kämpften noch heute um ihre Existenz, sagt der Autor im dapd-Interview. "Ich bin mir sicher, wenn mein Buch eines Tages auch in China veröffentlicht werden könnte, würden sehr viele Leser sehr überrascht sein", betont er. "Keiner kann erkennen, welchen Preis die Opfer für ihren Kampf um Gerechtigkeit bezahlt haben... Dass sie vergessen sind, tut ihnen nochmals sehr weh. Durch das Buch sind ihre Namen jetzt festgeschrieben, weltweit."

Erinnerung wachhalten

Die Erinnerung wachhalten an das, was vor 23 Jahren geschehen ist, darum geht es Liao. Im Anhang seines Buches listet er die Namen von 202 Todesopfern des Massakers auf. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, Schätzungen zufolge starben damals 2.000 bis 3.000 Menschen. Dass es in China inzwischen eine ganze Generation gibt, die über die Ereignisse Anfang Juni 1989 gar nichts weiß, ist für ihn besonders bitter. ("Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", S. Fischer, ISBN 978-3-10-044815-6, 24,99 Euro) (dapd)