Essen. Die Ruhrgebietsliteratur ist, anders als in den 80ern befürchtet, längst weit weg von Pütt und Maloche. Abzulesen ist das am Literaturpreis Ruhr.
„Deshalb wird sich in der Ausrichtung, in der Intention der Ruhrgebietsliteratur so schnell nichts ändern“, schrieb ein gewisser Franjo Terhart 1986 in der vierten Ausgabe der viel zu früh dahingeblichenen Zeitschrift „Revier-Kultur“, also: „Arbeiterdichtung, Provinzialismus wird nach wie vor im Vordergrund stehen und der Mythos Bergmannsdichtung (ohne Bergbau) wird alle aufblühenden dichterischen Versuche, das Ganze zu sehen, bereits im Keim ersticken. Jedes Bergwerk im Revier säuft schneller ab als der Mythos von seinen schwitzenden Malochern“.
Terhart, der später Kulturbeauftragter in Neukirchen-Vluyn im äußersten niederrheinischen Zipfel des Ruhrgebiets werden sollte und ansonsten mit Büchern über Esoterik und Religion hervortrat, aber auch Jugendliteratur und Fantasy schrieb, sollte allerdings auf schlagende Weise Unrecht behalten: Mit der Gründung des Gladbecker Literaturbüros Ruhr im gleichen Jahr war der Abschied der Ruhrgebietsliteratur eingeläutet.
Jürgen Lodemann und Max von der Grün
Ablesen lässt sich der Strukturwandel der Literaturbranche nicht nur am Verblassen des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“ bis an die Grenze der Wahrnehmbarkeit. Ablesen lässt sich der Abschied von der Bergmannsprosa und Kumpellyrik alten Schlages vor allem an der Reihe der Autorinnen und Autoren, die seit 1986 mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet wurden.
Die Auszeichnung hieß anfangs noch Literaturpreis Ruhrgebiet und wird seit 1986 gemeinsam vom Regionalverband Ruhr (RVR, damals noch Kommunalverband Ruhrgebiet KVR) und dem Literaturbüro verliehen. Erst der dritte Preisträger nach der politisch engagierten Lyrikerin Lilo Rauner und dem politisch engagierten Krimischreiber Jürgen Lodemann war Max von der Grün, an dem man damals wohl schon deshalb nicht vorbeikam, wenn man den Preis durch einen klingenden Namen mit Wert und Bekanntheit ausstatten wollte.
Frank Goosen und Fritz Eckenga
In der Folge bekamen Lyriker wie Ralf Thenior oder Romanciers wie Ralf Rothmann oder der nicht minder wortgewandte Michael Klaus den Preis. In den 90er-Jahren ging er auffällig häufig an Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren (Inge Meyer-Dietrich, Jürgen Banscherus, Doris Meißner-Johannknecht) und mehrmals an außergewöhnliche Krimischreiber (Peter Schmidt, Karr & Wehner, Jörg Juretzka). Auch die literarische „Kleinkunst“ wurde bedacht (Frank Goosen, Fritz Eckenga).
Dieses Phänomen hat Gerd Herholz, der ehemalige wissenschaftliche Leiter des Literaturbüros, gern damit erklärt, dass sich die Ruhrgebietsliteratur dem brummenden bundesrepublikanischen Betrieb „von den Rändern“ her nähere.
Hochbegabungen und Eingewanderte
Inzwischen aber ist sie längst dort angekommen. Der Preis ging an literarische Hochbegabungen aus dem Revier wie Brigitte Kronauer, Marion Poschmann, Enis Maci oder Norbert Wehr und sein Zeitschriften-Juwel „Schreibheft“ genauso wie an solche, die ins Ruhrgebiet eingewandert sind wie Barbara Köhler oder Jürgen Brôcan.
Das könnte aber auch bedeuten, dass es die Ruhrgebietsliteratur eigentlich gar nicht mehr gibt. Dass sie das unverkennbare Profil, das sie einmal hatte, abgelegt hat und so geworden ist wie überall. Vielleicht sind ihre Muster derzeit noch mit mehr migrantischen Fäden durchwirkt als anderswo (so eine wunderbar eigensinnige Selbstverlegerin wie Lütfiye Güzel, die es mit ihrem Ausnahmestatus bis aufs Titelblatt vom „Zeit“-Magazin geschafft hat, kann es vielleicht nur hier geben). Aber vor allem ist sie nur noch eine Literatur, die im Ruhrgebiet entsteht. Und vielleicht, unter anderem, vom Ruhrgebiet handelt.