Essen. . Schriftstellerin Marion Poschmann folgt im neuen Roman „Die Kieferninseln“ den Spuren japanischer Dichter. Eine Begegnung

Japan ist ein literarisches Sehnsuchtsland. Wie hier nüchterne Präzision auf Geisterglauben und traditionelle Rituale trifft, das eröffnet einen Raum, den japanischstämmige Autoren wie Haruki Murakami oder der aktuelle Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro seit Jahrzehnten überzeugend bespielen. Wenn nun Marion Poschmann den Pfaden japanischer Literatur folgt, dann spiegelt ihre Roman gewordene Pilgerreise deren traumwandlerischen Gehalt – und macht zugleich die Klischees, die jeden Schritt in dieses Gelände begleiten, zum Gegenstand des ihr eigenen spöttischen Witzes: „In Kaffeeländern lagen die Dinge offen zutage. In Teeländern spielte sich alles unter einem Schleier der Mystik ab“, so formuliert es ihr Protagonist Gilbert.

Dennoch sieht sich Gilbert durch seine Ehefrau Mathilda genötigt, überstürzt zum Flughafen aufzubrechen und dort den nächstbesten Langstreckenflug in ein Teeland zu buchen, denn: „Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog.“ Mit diesem Eröffnungssatz lockt uns Poschmann bereits in Gefilde, die den Leser alsbald Bodenhaftung verlieren lassen. Wie viel Realität steckt in dem traumatischen Betrug. Ihr Ziel? „Traum und Wirklichkeit so gegeneinanderzustellen, dass man sich am Ende nicht mehr ganz sicher ist“, sagt Marion Poschmann – mit leiser Stimme und einem feinen Lächeln kurz oberhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Für ihr Experiment greift sie auf einen Protagonisten vom Typus ältlichen Akademiker zurück, jedoch höchst originell ausgekleidet. Gilbert Silvester ist Privatdozent („für eine Professur hatte es nicht gereicht“) und aktuell „Bartforscher im Rahmen eines Drittmittelprojekts, gesponsert von der nordrhein-westfälischen Filmindustrie sowie zu kleineren Teilen von einer feministischen Organisation in Düsseldorf und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln.“ Sein Thema lautet: „Bartmode und Gottesbild“, in Japan aber trifft er nun auf „alles in allem bartlose Personen“. Nur der junge Yosa Tamagotchi aber, den er im Bahnhof vor prüfungsstressbedingtem Selbstmord bewahrt, trägt ein Ziegenbärtchen – in der Kunstgeschichte Kennzeichen Satans, im modernen Spielfilm immerhin noch Ausweis eines „moralisch verwerflichen Charakters“.

Gilbert fühlt sich für Yosa verantwortlich, gemeinsam reisen die beiden schließlich auf den Spuren zweier japanischer Dichter zu den titelgebenden Kieferninseln. Matsuo Basho unternahm die Reise nach Matsushima Ende des 17. Jahrhunderts und folgte damit wiederum dem Dichter Saigyo, der 500 Jahre früher aufbrach. „Damals war die Reise lebensgefährlich“, weiß Marion Poschmann und weiß auch, dass nach dem Tsunami viele junge Dichter den alten Routen folgten – „sie beschrieben dann die verheerte Landschaft rund um Fukushima“.

Die Idee, dass Orte die künstlerische Schaffenskraft beflügeln können, ist die eine Seite – wenn auch manche der Kiefern, die Basho einst bewunderte, heute im Zentrum eines Kreisverkehrs vegetieren. Die andere Seite sind jene Orte, die japanische Selbstmörder besuchen. Hier ist Yosa ein kundiger Reiseführer, der Gilbert etwa in den Selbstmordwald von Aokigahara führt: „Ein Wald voller weiblicher Rotkiefern also. Ein Wald, wie geschaffen für Leute mit Mutterproblem, dunkel, verschlingend.“ Hierhin pilgern die Lebensmüden; einmal im Jahr wird aufgeräumt, werden Stricke gekappt, Körper entsorgt.

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, lebt heute in Berlin. In einer selten gewordenen Doppelbegabung schreibt sie wechselweise Prosa und Poesie. Die Natur ist der grüne Faden ihres Werkes, in diesem Jahr zählen zu ihren Ehren neben dem Berliner und dem Düsseldorfer Literaturpreis sowie zu der Nominierung zum Deutschen Buchpreis auch die Auszeichnung mit dem ersten Deutschen Preis für Nature Writing. In Japan hat sie mehrere Monate verbracht, auch die Kieferninseln besucht. „Ich habe mich jetzt erst mit der Kiefer auseinandergesetzt“, sagt sie, im Tonfall eines schmerzlich empfundenen Versäumnisses: „Die Reise hat mir die Augen geöffnet für ihre Schönheit. Bislang war ich eigentlich kein Fan von Nadelbäumen.“

Im Roman ist es allerdings weniger die Kiefer denn die herbstliche Laubfärbung, die Gilbert auf seiner Pilgerreise ins Innerste führt. „Laubfärbung ist reine Gegenwart...“, heißt es im Roman: „Wer das rote Herbstlaub zu sehen begehrt, muß alles abschütteln, muß alles hinter sich lassen, und los.“ Dass die Japaner „keinen Unterschied machen zwischen Natur und Kunst“, das hat Marion Poschmann fasziniert und auch, dass die Leere eine mindestens ebenso große Rolle spiele wie in ihrem eigenen Werk: „Nicht das Objekt, sondern der Raum darum herum ist der eigentliche Gegenstand der Kunst. Das hat sich mit einigen der Ansätze getroffen, die ich in meinen Gedichten verfolge – einen vagen Raum zu schaffen, der offen ist für etwas, was dann kommen könnte.“

Der Satz gilt jedoch auch für „Die Kieferninseln“: Der Weißraum zwischen den Sätzen entfaltet eine meditative Kraft, die lange nachwirkt.

Marion Poschmann,1969 in Essen geboren, erhielt 2005 den Literaturpreis Ruhr. Ihr jüngster Roman „Die Kieferninseln“ ist bei Suhrkamp erschienen (168 S., 20 Euro).