Nachrodt-Wiblingwerde.
Ernie ist ein glückliches Pferd. Er wohnt auf der Pferdepension Waldemey bei Brenscheid und lässt es sich gut gehen. Doch Ernie hat auch Zähne, und die brauchen hin und wieder Behandlung. Darum kümmert sich Marius Keussen aus Kamp-Lintfort.
Doch wie sagt ein Pferd seinem Besitzer, dass es Zahnschmerzen hat? Eigentlich ist es ganz einfach. Man muss seinen vierbeinigen Freund nur genau beobachten. Wenn während des Fressens übermäßig viel Futter aus dem Maul fällt, wenn das Kauen schwer fällt, im Kot unverdautes Futter ist, das Pferd abmagert, dann stimmt etwas nicht. Kopfschütteln, übermäßiges Zungenspiel, Widerstand beim Aufzäumen und Ungehorsam schon bei leichtem Zügelziehen, fauliger Geruch aus dem Maul oder sogar Blutspuren, Ausfluss aus der Nase und Schwellungen des Kiefers oder der Mundsschleimhaut – all das kann das Ergebnis von Zahnschmerzen sein.
Zahnprobleme haben viele Ursachen. Anders als beim Menschen wachsen die Zähne von Pferden etwa drei Millimeter pro Jahr. Durch das Kauen werden sie wieder abgeschmirgelt. Eine Fehlstellung des Kiefers oder ungleichmäßige Kau-Bewegungen nutzen die Zähne bei den meisten Pferden aber ungleich ab. Dies führt zu Verletzungen, einzelne Zähne können ausbrechen. Die Backenzähne haben keine oder zu wenig Reibung. In der Folge kann das Pferd nicht mehr richtig kauen.
Ein äußerst seltener Beruf
Das Hauptproblem bei Pferdezähnen sind die so genannten „Haken“: Weil Oberkiefer und Unterkiefer sich nicht vollständig überlappen, kommt es zu ungleichmäßiger Reibung. Im Laufe der Zeit bleiben scharfe Kanten stehen: die Haken. Anfangs beim Kauen nur unangenehm, kommt es bald zu Entzündungen oder sogar Geschwüren an der Zunge oder der Mundschleimhaut. Haken entstehen immer wieder bei allen Pferden. Sie müssen entfernt werden.
Hier kommt Marius Keussen in Spiel. Der Mann ist von Beruf Tierarzt. Aber er hat sich spezialisiert als Pferde-Zahnarzt. Das ist ein äußerst seltener Beruf, den es vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht gab. Zahnprobleme von Pferden waren den Menschen damals nicht egal, sie waren einfach nicht bekannt. Keussen musste nach Abschluss seines Studiums 1985 nach England reisen, um sich dort zum Pferdezahnarzt weiterbilden zu lassen. Inzwischen ist er zum bundesweit gefragten Spezialisten geworden. Weil er nur ganz wenige Kollegen hat, ist sein Terminkalender rappelvoll. Wer seine Tiere behandeln lassen möchte, muss sich mindestens ein halbes Jahr gedulden.
Einmal pro Jahr zur Vorsorge-Untersuchung
Die meisten Pferdebesitzer von der Waldemey warten nicht darauf, bis ihr vierbeiniger Freund wirklich echte Zahnschmerzen bekommt. Keussen besucht den Stall deswegen regelmäßig einmal pro Jahr zur Vorsorge-Untersuchung. Er kontrolliert die Pferdezähne und raspelt mit einem schweren Bohrer den Belag ab. So können schlimmere Krankheiten gar nicht erst entstehen. Mit wenigen Ausnahmen lassen die Tiere seine unangenehme Behandlung gelassen über sich ergehen.
Auch Ernie scheint zu wissen, dass dieser Mann ihm Gutes tun und nicht vorsätzlich Schmerzen bereiten will. Er steht still wie ein bronzenes Reiterdenkmal. Die Tiere müssen nur leicht angebunden sein, damit sie den Kopf ruhig halten. Beim letzten Besuch des Zahnarztes musste kein einziges Tier betäubt werden.
Zubehör kommt aus Handwerker-Märkten
Seine Ausrüstung karrt Keussen mit der Sackkarre heran. Vor der Behandlung wird eine Maulsperre in das Gebiss geschoben. Das muss sein, weil der Bohrer sonst die hinteren Backenzähne nicht erreichen würde. Außerdem schützt Keussen so seinen Arm, den er weit in das Pferdemaul hineinschiebt. Der Bohrer ist etwa 60 Zentimeter lang – schwere Maschinen-Technik, selbst gebastelt, denn es gibt keine Dental-Technik für Pferde. Sein Zubehör kauft Keussen in Handwerker-Märkten. Er könnte mit seinem Bohrer auch Beton zerlegen. Keussen schwitzt bei der Arbeit, obwohl er muskulös und durchtrainiert ist. Klatschnass ist er nach der Behandlung. Das schwere Gerät, der Druck, den er ausüben muss, die hohe Konzentration, mit dem Bohrer nicht abzurutschen, das schlaucht.
Zum Glück für die Pferdebesitzer kostet so eine Behandlung insgesamt nur den Bruchteil einer menschlichen Zahnbehandlung, obwohl die Patienten deutlich größere Gebisse haben. Und der Aufwand lohnt sich. Ernie ist gesünder und zufriedener. Er dankt es seinem Besitzer mit problemlosem Umgang, hoher Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Lebensfreude.