Stockholm. Der Nobelpreis für Literatur 2009 geht an die deutsche Schriftstellerin Herta Müller. Müller zeichne „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit", so die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften.

Die in Deutschland lebende und arbeitende Schriftstellerin Herta Müller erhält den Literatur-Nobelpreis 2009. Das gab die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm bekannt.

In der Begründung der Akademie heißt es, Müller zeichne „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“.

Überrascht von der Auszeichnung

Die Schriftstellerin ist von ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis überrascht worden. In einem Telefonat habe Müller gesagt, sie könne das Ganze gar nicht glauben, sagte eine Sprecherin des Carl Hanser Verlags am Donnerstag in München auf Anfrage der Nachrichtenagentur ddp. Am Telefon habe die Schriftstellerin «gelacht und geweint».

«Man kann sich auf so etwas nicht vorbereiten», sagte die Sprecherin: «Wir sind schlicht überglücklich.» Mit der Auszeichnung der in Rumänien geborenen Autorin sei auch die rumänische Literatur gewürdigt worden. Im Carl Hanser Verlag war unter anderem Müllers letztes Buch "Atemschaukel" erschienen.

Große Freude herrschte am Donnerstag auch in dem kleinen Ort Nitchidorf im Westen Rumäniens, dem Heimatdorf der deutschen Literatur-Nobelpreisträgerin. Bürgermeister Ioan Mascovescu sagte der Nachrichtenagentur AFP, er sei «glücklich», dass mit Müller eine aus Nitchidorf stammende Autorin die begehrte Auszeichnung erhalte - auch wenn sie nicht mehr dort lebe. Das Geburtshaus Müllers sei nach einer Verstaatlichung zwar nicht mehr im Besitz der Familie, die Autorin habe aber ein anderes Grundstück in dem Dorf geerbt.

Entscheidung kam unerwartet

Die Entscheidung für Müller war nicht unbedingt zu erwarten. So hieß es zuvor in Stockholm, dass nach der Dominanz europäischer Schriftsteller in den vergangenen Jahren Autoren anderen Kontinente gute Chancen hätten: Philip Roth und Joyce Carol Oates aus den USA, Amos Oz aus Israel und der syrische Dichter Adonis wurden in Stockholm als Favoriten gehandelt.

Der ständige Sekretär der entscheidenden Schwedischen Akademie, Peter Englund, hatte in dieser Woche mit Äußerungen in einem AP-Interview Aufsehen erregt, das Komitee sei zu eurozentrisch eingestellt. In den meisten Sprachregionen der Welt gebe es würdige Kandidaten und das gelte auch für Nord- und Südamerika, erklärte er. Sein Vorgänger Horace Engdahl hatte im vergangenen Jahr den US-Autoren vorgeworfen, sie dächten zu insular und seien ihrer Massenkultur zu sehr verhaftet. Der Literaturnobelpreis 2008 ging an den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clezio.

Bislang wurden die Empfänger der Nobelpreise für Medizin, Physik und Chemie bekanntgegeben. Am Freitag folgt die Entscheidung über den Friedensnobelpreis. Jede Auszeichnung ist mit zehn Millionen Kronen (980.000 Euro) dotiert. Die Preisverleihung erfolgt alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag Nobels.

Deutschsprachige Minderheit

Müller wurde am 17. August 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Ihre Eltern gehörten der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien an. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gedient. Wie viele Rumäniendeutsche wurde auch Herta Müllers Mutter 1945 in die Sowjetunion deportiert. Sie war fünf Jahre in einem Arbeitslager in der jetzigen Ukraine interniert. In ihrem Werk "Atemschaukel" (2009) schilderte Müller das Exil der Rumäniendeutschen in der Sowjetunion. "Atemschaukel" steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises der am 12. Oktober in Frankfurt verliehen wird.

Die Autorin studierte in den 70er Jahren deutsche und rumänische Literatur an der Universität von Timişoara (Temeswar). Sie gehörte zu einem Kreis deutschsprachiger Autoren, die gegen den Diktator Ceauşescu und für Meinungsfreiheit eintraten. Später war sie Schikanen der Securitate ausgesetzt.

Zensur in Rumänien

Ihr Debüt, die Novellensammlung "Niederungen" (1982), wurde in Rumänien zensiert herausgegeben. Zwei Jahre später erschien Niederungen unzensiert in Deutschland, und im gleichen Jahr wurde "Drückender Tango" in Rumänien veröffentlicht. Da sie darin die Diktatur in Rumänien öffentlich kritisiert hatte, wurde sie in ihrer Heimat mit Publikationsverbot belegt. 1987 emigrierte sie zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Richard Wagner.

Die Romane Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1994) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) vermitteln mit ihren herausgemeiβelten Details ein Bild des Alltagslebens in einer erstarrten Diktatur. Herta Müller war Gastdozentin unter anderem in Paderborn, Warwick, Hamburg, Swansea, Gainsville (Florida), Kassel, Göttingen, Tübingen und Zürich. Sie wohnt in Berlin. Seit 1995 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Müller wird der mit zehn Millionen Kronen (980.000 Euro) dotierte Preis am 10. Dezember in einer Zeremonie in Stockholm verliehen. Sie ist die erste deutsche Frau, die den Nobelpreis für Literatur bekommt. Zuletzt hatte aus Deutschland 1999 Günter Grass den Preis verliehen bekommen. Im vergangenen Jahr ging die Auszeichnung an den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio.

Mit Material von afp, ddp und ap

Werke auf Deutsch

  • Niederungen. – Bukarest : Kriterion-Verlag, 1982 ; Berlin : Rotbuch-Verlag, 1984
  • Drückender Tango : Erzählungen. – Bukarest : Kriterion-Verlag, 1984 ; Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1996
  • Der Mensch ist ein groβer Fasan auf der Welt : Roman. – Berlin : Rotbuch-Verlag, 1986
  • Barfüβiger Februar : Prosa. – Berlin : Rotbuch-Verlag, 1987
  • Reisende auf einem Bein. – Berlin : Rotbuch-Verlag, 1989
  • Der Teufel sitzt im Spiegel. – Berlin : Rotbuch-Verlag, 1991
  • Der Fuchs war damals schon der Jäger : Roman. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1992
  • Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. – Hamburg : Europäische Verlagsanstalt, 1992
  • Der Wächter nimmt seinen Kamm : vom Weggehen und Ausscheren. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1993
  • Herztier : Roman. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1994
  • Hunger und Seide : Essays. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1995
  • In der Falle. – Göttingen : Wallstein-Verlag, 1996
  • Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1997
  • Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne. – Göttingen : Wallstein-Verlag, 1999
  • Im Haarknoten wohnt eine Dame. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2000
  • Heimat ist das, was gesprochen wird. – Blieskastel : Gollenstein, 2001
  • Der König verneigt sich und tötet. – München : Hanser, 2003
  • Die blassen Herren mit den Mokkatassen. – München : Hanser, 2005
  • Atemschaukel : Roman. – München : Hanser, 2009

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