Essen. Herta Müller hat einen großen Roman über die Deportation der Siebenbürger Sachsen am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben: „Atemschaukel” heißt das Werk - und es zeigt, dass noch nicht alle Geschichten über den Zweiten Weltkrieg erzählt sind.
Mehr denn je glaubt man, längst alles zu wissen über das unsägliche Leid, das der Zweite Weltkrieg über die Menschen in Europa gebracht hat. Selbst das Elend der deutschen Vertriebenen ist kein Tabu mehr, seit ein politisch Unverdächtiger wie Günter Grass 2002 mit der Novelle „Im Krebsgang” den Untergang von Flüchtlingen auf der „Wilhelm Gustloff” thematisierte – und so das Reden darüber aus dem Ruch von Revanche und Aufrechnen befreite.
Aber dann erzählt doch wieder jemand eine neue alte Geschichte, die das Erzählen wert ist. Und zu Unrecht vergessen. Wie die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs von den Russen zur Zwangsarbeit in die Ukraine verschleppt wurden – als „Strafe” dafür, dass Rumänien bis zum Sommer 1944 mit den Nazis paktiert hatte. Auf Anforderung des sowjetischen Generals Vinogradov wurden die in Rumänien lebenden Deutschen im Alter zwischen 17 und 45 zum „Wiederaufbau” in der UdSSR deportiert.
Er bleibt Lagerinsasse
All das wäre wohl ein Halbsatz in wenig gelesenen Geschichtsbüchern geblieben. Wenn nicht Herta Müller einen der großartigsten Romane des Bücherherbstes diesem menschlichen Drama gewidmet hätte. „Atemschaukel” erzählt mit angehaltenem Atem, wie fünf Jahre Lager einen 17-Jährigen so zerbrechen, dass er der Welt, seinen Eltern und sich selbst ein langes Leben lang fremd bleibt.
Nach zwei Jahren ist der Junge, von dem wir erst spät erfahren, dass er Leopold Auberg heißt, im Lager schon zu Hause. Als er drei Jahre später nach Siebenbürgen zurückkehrt, ist er heimatlos, den Eltern und erst recht dem „Ersatzbruder”, der zwischenzeitlich zur Welt gekommen ist, ein Rätsel. Und Lagerinsasse ist er noch als Greis, auch wenn seit der Befreiung schon 60 Jahre vergangen sind. Auch dann noch überfallen ihn die Gegenstände von damals, „die Atemschaukel überschlägt sich, ich muss hecheln”.
Das tödliche „Eintropfenzuvielglück”
Deutscher Buchpreis 2009
Die Finalisten für den Deutschen Buchpreis 2009 stehen fest.
Auf der Shortlist stehen:
- Rainer Merkel mit "Lichtjahre entfernt" (S. Fischer, März 2009)
- Herta Müller mit "Atemschaukel" (Hanser, August 2009)
- Norbert Scheuer mit "Überm Rauschen" (C. H. Beck, Juni 2009)
- Kathrin Schmidt mit "Du stirbst nicht" (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009)
- Stephan Thome mit "Grenzgang" (Suhrkamp, August 2009)
- Clemens J. Setz mit "Die Frequenzen" (Residenz, Februar 2009)
Verliehen wird der Deutsche Buchpreis am 12. Oktober im Kaisersaal des Frankfurter Römers. Der Sieger erhält ein Preisgeld von 25 000 Euro.
Vielleicht weiß Herta Müller um diese grausamen Spätfolgen von Oskar Pastior, dem ebenfalls in Siebenbürgen geborenen Dichter. Mit ihm, einem Betroffenen, war sie in die Ukraine gereist, zu den Orten der Lager: Hier vegetierten die rumäniendeutschen Zwangsarbeiter, wenn sie nicht als Bauarbeiter und Erntesklaven und in der Petrochemie schufteten, Zement- und Kohlenstaub inhalierten oder sich im Kalk quälten.
Doch Oskar Pastior starb im Oktober 2006, kurz bevor er den Büchner-Preis entgegennehmen konnte. Herta Müller musste das Buch alleine schreiben, aber es wirkt, als hätte das Lagerleid selbst die Feder geführt, und das ist das eigentliche Ereignis dieses Romans: Es scheint, als hätten sich Halluzinationen und Schmerzen und Hunger eine ganz eigene, seltsam zärtliche, ja oft lyrische Sprache gesucht für das Leid, das sie anrichten. Vom „Hungerengel” ist da die Rede, der auch teuflische Züge annimmt, wenn der Anwalt, der auch unter den Internierten ist, seiner eigenen Frau immer weniger heimlich die Suppe weglöffelt und sie damit zum Tode verurteilt. Vom „Eigenbrot und Wangenbrot” ist auch die Rede, vom tödlichen „Eintropfenzuvielglück”, von einer „Tageslichtvergiftung” und vom „Wortgeruch” – „ich aß Speichel mit Abendrauch und dachte an Bratwurst”.
Die poetische Sprache aber ist eine Zange: Die braucht einer, der das Lager überlebt hat, wenn er noch Zugriff haben will auf die eigene Vergangenheit und sie sich zugleich vom Leibe halten.
„Wenn man nur Haut und Knochen ist, sind Gefühle tapfer”, sagt einer, der längst nicht mehr Haut und Knochen ist, aber dem das alles immer noch unter die Haut geht und in die Knochen fährt.
Herta Müller: Atemschaukel. Hanser, 303 Seiten, 19,90 €